Donnerstag, 31. März 2011

Doris war nicht bei Facebook

Am wöchentlichen Familientag drückt mir meine Mutter eine Beerdigungsdanksagung in die Hand, die sie aus der Zeitung ausgeschnitten hat. Familie X bedankt sich da bei allen Freunden und Bekannten für die rege Anteilnahme an der Beerdigung von Doris, daneben ein Bild, von dem mich eine lebenslustige Frühvierzigerin angrinst. „Guck mal“ fragt sie „kennst Du die nicht?“

Und ob ich die kenne. Vielmehr, jetzt, kannte.

Doris war meine erste „richtige“ Freundin, ich ihr erster „richtiger“ Freund. Sie war 16, ich war 18, in den Läden gab es immer noch mehr Schallplatten als CDs, Kohl war noch Kanzler und Genscher sein Außenminister und ich bin noch den froschgrünen Datsun meiner Mutter gefahren, dessen umklappbare Rücksitze eine wunderschöne Liegefläche schafften und der mir am Hang mal weggerutscht ist, weil ich vergessen hatte, die Handbremse anzuziehen und nur ein spontaner Coitus interruptus rettete damals sie und mich davor, in ein Akazienwäldchen zu rutschen. Hatte ja niemand eine eigene Wohnung.

Die Dame war damals hübsch, schlagfertig und intelligent, mit einem rasiermesserscharfen Verstand und in wirklich jeder Beziehung konsequent.

Doris hat eigentlich so gar nicht zu mir gepasst. Ich war begeisterter Anhänger von Depeche Mode, sie hörte Fleetwood Mac. Ich war der Bodenständige, der FDP-Anhänger, der unbedingt in die Finanzbranche wollte, sie war die Unabhängige, Kreative, die mit den Ideen, verletzend ehrlich, ironisch, spöttisch, dabei aber extrem gradlinig. Wir haben oft diskutiert, hart diskutiert und so ziemlich zu jedem Thema unterschiedliche Ansichten gehabt und deswegen ging das auch nur knapp 100 Tage, weil ich ihr zu langweilig, zu bieder und zu brav und wahrscheinlich auch zu besitzergreifend war, während sie damals schon, wenn sie auch vielleicht nicht genau wusste, was sie wollte, auf jeden Fall wusste, was sie nicht wollte. Und das waren exakt die Dinge, die für mich wertvoll waren und sind.

Sie hat dann auch ziemlich schnell einen glasharten Strich gezogen, was umgekehrt mir ersparte, mit ihr Schluss zu machen. Ich habe das damals schon mehr oder weniger schulterzuckend zur Kenntnis genommen, bedauerlich, aber andere Mütter hatten ja auch schöne Töchter und wahrscheinlich wäre ich ihr intellektuell auf Dauer eh nicht gewachsen gewesen. Man muss auch mal wissen, wann´s gut ist und wo die eigenen Grenzen liegen.

Wir haben uns dann, obwohl unsere Stadt nun wirklich nicht groß ist, ziemlich schnell aus den Augen verloren, was aber auch nicht schlimm war, weil Doris/ThiloS einfach nicht funktioniert hätte. So simpel, so, wie es eben ist.

Und jetzt liegt dieser Zeitungsausschnitt vor mir. Doris lacht mich daraus an oder aus.

Ich pflege zu ziemlich allen meiner „Verflossenen“ einen sehr losen Kontakt, weiß also zumindest, was aus allen geworden ist und in Zeiten von Facebook und Stayfriends und WkW ist das auch wirklich kein Problem. Du gibst den Namen in den Suchbegriff ein, wühlst Dich schlimmstenfalls durch hundert Seiten, schickst dann zwei- drei Mitteilungen weg und dann melden sich Sabine und Silke und die eine Uschi, die Dir den ersten Kuss Deines Lebens verpasst hat, nach dem Dir dann vor Aufregung schlecht war.

Doris habe ich nie gefunden.

Und Doris hat mich augenscheinlich auch nie gesucht, was mich jetzt erst recht noch ärgert, weil es gegen mein Ego geht. Und ich das als Missachtung empfinde, weil, hey, immerhin war ich Erster. Aber eine Doris hat sich auch nie mit Sentimentalitäten aufgehalten, da gab es hinter der nächsten Ecke schon wieder Neues zu entdecken.

Ich setze mich ins Auto und suche sie auf dem Friedhof ihres Heimatortes. Und tatsächlich, ich finde ihr Grab, wenn es auch etwas dauert.

Und zu meiner eigenen Überraschung heule ich wie ein Schlosshund.

Doris ist jetzt 25 Jahre weit zurück. Irgendwo habe ich noch ein paar wirklich nette Liebesbriefe liegen, irgendwo verstaubt auf dem elterlichen Dachboden auch noch ein ziemlich untalentiert gemaltes Bild. Irgendwo in meiner Vergangenheit, als ich noch jung und der festen Ansicht war, dass die Welt nur auf mich gewartet hatte.

Und natürlich frage ich mich, ob sie ihr Leben gelebt hat. Ob sie glücklich war.

Ohne lange nachzudenken und weil ich den Weg ja immer noch kenne, fahre ich zu ihren Eltern. Wenn es denen nicht passt, dann werden sie mich rausschmeißen oder gar nicht erst reinlassen, dann habe ich es wenigstens probiert.

Doppeltes Glück: sie sind da und sie empfangen mich.

Ja, sie erinnern sich an mich, wenn sie mich auch nur vier-/fünf Mal und mit 30 Kilo weniger Gewicht und 30 Falten weniger im Gesicht gesehen haben.

Und wir reden.

Lange.

Sie haben von Doris´ Freunden ein Fotoalbum geschenkt bekommen, das ich mir dankenswerterweise ansehen darf. Doris, wie sie lebte und wie sie war. Straight, geradeheraus, kreativ und vor allem – überbordend lebensfreudig. Und ich erfahre endlich, was Doris in den letzten 25 Jahren gemacht hat, wie es ihr ergangen ist, wobei Doris niemals etwas „ergangen“ ist, weil sie das lieber selbst bestimmt hat. Unabhängig eben. Daher auch kein Mann, keine Kinder. Passt. Das hätte sie nur gebunden und gefesselt. Das wäre nicht Doris gewesen. Und deswegen mit Sicherheit auch kein Facebook und sonstiger Schnickschnack. Das hätte ja die Verpflichtung bedeutet, sich da hin und wieder melden zu müssen. Igitt. Ich wette, sie hat lieber telefoniert oder besucht.

Sie ist nach Berlin abgehauen und kreuz und quer durch die Welt geflogen und hat sich alles angesehen und dabei wahrscheinlich doppelt so schnell gelebt wie ich und die Masse der Anderen. Die Flamme hat wohl heller geleuchtet und ist deswegen vielleicht auch schneller erloschen.

Gestorben ist sie an einer dämlichen und lächerlichen Lungenentzündung, an einer blöden Krankheit, die man normalerweise im Bett mit Chips und Cola und einem DVD-Player auskuriert, so sie schnell genug diagnostiziert wird.

Auch ihr Tod passt. Eine alte, kranke und von anderen abhängige Doris wäre der unglücklichste Mensch der Welt gewesen. Sie hat mutmaßlich an dem Punkt aufgehört, an dem es am Schönsten war.

Mir bleibt die Erinnerung und der Dank, sie kennen und eine kurze Zeit lang sogar lieben gelernt zu haben.

Du lebtest wohl, Doris.

Adieu.

5 Kommentare:

  1. Ein wundervoller Nachruf. Bestimmt hat jeder von uns seine Doris...

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  2. Ich bin wie immer schwer beeindruckt von deiner unverblümten Ehrlichkeit. Das schätze ich sehr! Ebenso den Mut, diese doch recht persönliche Thematik öffentlich zu machen.

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  3. Ach, wie Alice schrieb. Jeder hat "seine" Doris. Es sind eben diese Momente, die uns auch an unsere eigene, begrenzte Zeit erinnern. Leben ist nicht immer nur Spass und Fun und Freude, es darf auch Platz sein für Trauer. Man muss auch die negativen Dinge intensiv "durchleben" - nur dann, so glaube ich, lebt man wirklich.

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  4. Ich bin mir sicher, Doris hat bei deinen Worten ein Grinsen auf den Lippen! Schön...

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  5. So ist das Leben.

    Die Zeit ist wie ein Raubtier was uns gnadenlos jagt.
    Und am ende bekommt es uns doch!

    Ein hervorragender Nachruf.

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