Sonntag, 8. April 2018

Augen auf beim Siphon-Kauf


Neulich habe ich beim Wechseln der Mülltüte gemerkt, dass der Siphon unter der Spüle, an dem auch die Waschmaschine irgendwie hängt, also, dass der feucht ist. Da hing so ein Tropfen dran. Und es hatte sich im Unterschrank eine kleine Pfütze gebildet. Nichts Dramatisches. Aber so etwas muss man ja im Auge behalten, sonst hast Du irgendwann nachts einen Rohrbruch und das Wasser quillt unten aus der Küchentüre raus und hebt das Parkett. Oder so. Selbst, wenn es nur das Wasser aus dem Siphon ist. Man kann da nicht vorsichtig genug sein.

Jetzt gibt es ja Männer, die machen so etwas selbst. Rohrzange aus der Garage pflücken und Bastelspaß haben. Zu diesen Männern gehöre ich nicht. Ich kann lediglich einen kaputten Siphon als solchen identifizieren, das war es dann. Also suchte ich mir via Google einen Klempner in der Nähe heraus, rief an und bat seine Frau, ob Ihr Mann sich das mal anzusehen könne und wir vereinbarten einen Termin. Und was nach dem Tausch eines kaputten Siphons aussah, entwickelte sich zu einer Grundsatzdiskussion.

Herr Krapulski ist ziemlich pünktlich und ich freue mich und biete ihm einen Kaffee an, den er dankend annimmt. Dann will er wissen, wo der Siphon ist und ich gebe ihm brav die gewünschte Auskunft und räume den Mülleimer und die Putzmittel aus dem Unterschrank. Herr Kapulski setzt seinen Werkzeugkasten ab, meint, das sei „keine große Sache“ und taucht unter die Spüle. Und ich sage den Satz: „Schön, dass es so schnell geklappt hat. Ihre Frau war wirklich total nett am Telefon“.
Das Schnauben unter der Spüle kommt zu einem Ende und Herr Krapulski steckt den Kopf hinter der Unterschrank-Tür hervor. „Das ist nicht meine Frau“, sagt er.  „Das ist meine Schwester“, sagt er. „Ich bin nämlich schwul“, sagt er auch. Und ich sage: „Oh“. Was soll ich auch sonst sagen? „Ja „OH“!“, giftet er zurück: „Warum glauben die Leute immer, Schwule gäbe es nur beim Fernsehen?“

Hm.

Das ist eine ziemlich gute Frage, auf die ich ad hoc keine Antwort weiß. Aber Herr Krapulski weiß sie. „Ihr Leute seid alle voller Vorurteile. Ihr denkt immer nur an die Tunten und Tucken in ihren Fummeln. Dass ein ganz normaler Mensch auch schwul sein kann, das kommt Euch gar nicht in den Sinn!“ Ich gebe innerlich zu, dass mir wirklich noch nie in den Sinn gekommen ist, dass es auch schwule Heizung-, Gas- Wasser-Installateure geben könnte. Schlicht, weil es mir egal ist. Ich habe einen kaputten Siphon, den ich gerne repariert hätte.  „Stimmt“, sage ich. „Daran habe ich wirklich noch nie gedacht!“ „Sehen Sie““, gibt er leicht triumphierend zurück „…und deswegen ist es so wichtig, dass wir für unsere Rechte auf die Straße gehen.“ Das mag ja sein, aber mir wäre es lieber, er ginge statt auf die Straße wieder unter die Spüle und repariert den schwulen Siphon.

„Ja, das ist wichtig““, echoe ich zurück. „Es tut mir leid.“, hänge ich hintendran. Herr Krapulski ist großzügig: „Das muss es nicht, ich erlebe das jeden Tag.“ Ja, das ist tragisch, dass er das jeden Tag erlebt. Dass sich niemand dafür interessiert, ob er einen schwulen Heizung-, Gas- Wasser-Installateur vor sich hat. „Es geht nur darum, dass wir mehr Normalität im Umgang miteinander bekommen!“, doziert Herr Krapulski weiter. „Ja, Normalität!“, gebe ich wieder zurück und würde mich sehr gerne jetzt verziehen, damit er unbelästigt den Siphon reparieren kann, aber Herr Krapulski ist jetzt in seinem Element. „Wissen Sie“, erzählt er weiter, „wir haben jetzt zwar die „Ehe für alle“, aber bis zur absoluten Gleichberechtigung ist es noch ein weiter Weg. Deswegen oute ich mich da auch gerne, weil mir das einfach wichtig ist!“

Das mag ja sein, aber mir persönlich wäre jetzt eigentlich mein Siphon wichtiger als seine Gleichberechtigung und ich habe ihn ja auch nicht ungleichberechtigt behandelt. Ich habe bei Google auch nicht „heterosexuelle Klempner in meiner Umgebung“ eingegeben, zumal ich dann auch die nächsten Wochen mit sehr seltsamen algorithmischen Angeboten hätte rechnen müssen und ich habe aus Gleichberechtigungsgründen auch nicht „homosexuelle Klempner“ oder „Trans-Klempner“ eingegeben. Ich habe wirklich nur jemanden gesucht, der einen Siphon reparieren kann. Meinetwegen könnte das auch eine hermaphrodite Transgender-Lesbe mit Hang zu klassischer Literatur und italienischen Rotweinen sein, die da unter der Spüle liegt, mir geht es nur um den Siphon. Ich bin da völlig vorurteilsfrei.

„Ich bin da völlig vorurteilsfrei.“, sage ich deshalb. „Wenn dem so wäre, dann hätten sie meine Schwester nicht für meine Frau gehalten!“, hält er mir den schmutzigen Vorurteilsspiegel vor die Nase und mir platzt der Hemdkragen: „Hören Sie, ich hatte eine Frau am Telefon, die sich mit „Krapulski“ gemeldet hat, was mich nicht wunderte, weil ich bei der Firma Krapulski angerufen habe, also ging ich davon aus, dass es sich bei Ihnen um einen Familienbetrieb handelt und die Wahrscheinlichkeit, dass sich in unserer zu 92,6% heterosexuellen Gesellschaft (http://www.queer.de/detail.php?article_id=27318)  eine Ehefrau statt einer Schwester meldet, war demnach ziemlich hoch. Also machen Sie kein Drama draus und reparieren Sie bitte den Siphon!“
Herr Krapulski schüttelt den Kopf. „Das geht nicht“, sagt er, „mir fehlt ein Ersatzteil. Ich habe nicht den passenden Bogen.“ „Sehen Sie?“, rufe ich aufgeregt, „so geht es mir! Ich bestelle einen Installateur und dann fehlt ihm der passende Bogen und dass ich auch schwul sein könnte, auf die Idee kommt er auch nicht!“ Herr Krapulski ist etwas verunsichert. „Sind Sie denn schwul?“, fragt er. „Nein!“ gebe ich zurück, „aber ich könnte es sein! Daran haben Sie nämlich jetzt auch nicht gedacht! Selber Vorurteile haben, aber sie anderen unterstellen wollen!“ Herr Krapulski schüttelt den Kopf. „Wollen Sie nun den Siphon repariert haben oder nicht?“, fragt er. „Will ich! Deswegen sind Sie ja da. Und ich zahle pro Stunde am Siphon, nicht pro Stunde an der Gesellschaft!“, gebe ich zurück.

„Dann gehe ich jetzt los und hole einen Bogen.“, sagt er.

Und dann ging er. Und ich habe ihn nie wieder gesehen. Und auch nie eine Rechnung von ihm erhalten. Den Siphon hat später ein heterosexueller Bekannter repariert, ganz ohne gesellschaftliche Diskussion. Er hat mir dabei von seiner Ehe erzählt. Das war auch in Ordnung. Und hat mich ebenso wenig interessiert. Aber mein Siphon funktioniert jetzt wieder.

Freitag, 3. November 2017

Brettchen vorm Kopf


Seit mein Arzt vor vier Monaten seine neue Praxis bezogen hat, habe ich ihn locker ebenso oft besucht. Und seit dieser Zeit, seit dem ersten Besuch, steht dieses kleine Brettchen im Aufzug. Es ist ein ganz normales kleines Brettchen, anscheinend das Stück eines Laminats mit vorne Kiefer-Struktur und hinten der braunen Panel-Seite. Es ist etwa 30cm lang und 10cm breit und geschätzt 5mm dick. Und es steht in der linken unteren Ecke. Wie bestellt und nicht abgeholt. Sonst macht es nix. Es steht da. Einfach so.

Es dürfte mittlerweile Tausende Male vom Keller bis in den vierten Stock gefahren sein. Und bei wenigstens 50% der Fahrten einen Mitfahrer gehabt haben. Der sich dachte „Oh, ein Brettchen, das steht da.“ Mir hat das Brettchen ja auch schon wenigsten vier Mal aufgelauert. Also fahre ich mit dem Brettchen nach oben, rede mit meinem Arzt, dann steige ich wieder in den Aufzug, in dem ruhigen Gewissen, dass Weltwirtschaftslage hin und Flüchtlingsnichtkrise her, das Brettchen da auf mich warten wird. Ruhig, entspannt, gelassen.

Ich frage mich jedes Mal, wer das Brettchen da hin gestellt hat, warum er dies getan hat und warum er es dann vergessen hat. Wollte er das Brettchen nicht mehr? War es ihm lästig geworden? Aber warum hat er es dann nicht weggeworfen? Oder verschenkt? Viele Menschen möchten sicher ein Brettchen. Leider eben nicht die, die zu meinem Arzt oder der Sparkasse oder in das Massagestudio oder zu Herrn Klöbner ganz oben wollen.  Ich persönlich brauche kein Brettchen. Erst recht nicht mit Kiefer-Struktur. Mir ist das egal. Dem Brettchen auch. Es steht einfach nur da rum.

Vielleicht hat ein Handwerker aus dem Innenausbaugewerbe das Brettchen auch einfach vergessen. Er war dann fertig mit dem Verlegen des Laminats und hat das Brettchen dann gesucht, weil es doch das Brettchen war, das unter die Heizung sollte. Dann hat er in der Wohnung alles auf Links gedreht und das Brettchen natürlich nicht gefunden, weil es ja im Aufzug geblieben ist und dann hat er sich gedacht „na gut, ist eh nur unter der Heizung, das lass ich einfach weg.“ Und dann ist er in den Aufzug gestiegen und hat das Brettchen gesehen und sich gedacht „da isses ja, aber ich habe schon  Feierabend, ich geh jetzt nicht zurück und verlege das noch. Mach ich morgen!“, und dann ist er leider an einem Herzinfarkt gestorben und das Brettchen blieb einsam und allein zurück.

Oder umgekehrt: er hat altes Laminat herausgerissen und ist mit dem Müll nach unten gefahren, weil er aber schon die Hände mit anderen Brettern voll hatte, konnte er das Brettchen nicht greifen und hat es einfach da stehen gelassen, weil er es nicht gemerkt hat, beim Rausgehen. Oder er war gerade aus dem Aufzug draußen, hat das Brettchen gesehen und wollte es greifen, als sich plötzlich die Türe geschlossen hat und der Aufzug nach oben fuhr. Und er dachte sich „oh Fuck, da war noch ein Brettchen drin und jetzt isses weg. Naja, trag ich erst die anderen Bretter zum Müll oder in meinen Kombi und komm dann zurück und hole es, wenn der Aufzug wieder unten ist.“, und hat es dann vergessen. Das wäre auch möglich.

Oder eine Mutter ist mit ihrem Kind zum Arzt und das Kind fand das Brettchen im Hof und hat es aufgehoben und wollte es zum Arzt mitnehmen, damit es was zum Spielen hat und die Mutter hat das Brettchen erst im Aufzug bemerkt und gesagt „Noah-Methusalem, lass das dreckige Brettchen da im Aufzug. Das nimmst Du nicht mit. Wer weiß, wie viele Hunde schon da drauf gepinkelt haben!“ Könnte auch sein. So eine SUV-Helikoptermutter, die weiß, dass Hunde auf Brettchen pinkeln, wenn sie sie sehen. Aber eigentlich sieht das Brettchen ziemlich sauber und gar nicht angepisst aus.
Ich meine, ich könnte das Brettchen ja mitnehmen und in die Restmülltonne vorne bei den Parkplätzen werfen. Könnte ich machen. Ich habe da sowieso mein Auto geparkt und könnte das Brettchen quasi im Vorbeigehen einwerfen. Das wäre wirklich gar kein Problem. Es ist auch nicht sonderlich schwer, so, wie es aussieht. Kein Aufwand. Brettchen anheben und in den Müll werfen. Dann wäre es weg. Für immer. Wahrscheinlich.

Andererseits gehört das Brettchen vielleicht doch jemandem und der sucht es dann. Oder es hat irgendeine geheime Funktion in diesem Aufzug, die ich nicht kenne. Beispielsweise, dass sich Spackos wie ich Gedanken über das Brettchen machen und darüber vergessen, dass der Arzt soeben den doppelten Satz abgerechnet hat, weil ich Privatpatient bin. Und wenn ich das Brettchen mitnehme, dann denken die anderen Patienten und ich plötzlich an die Abrechnung und nicht mehr an das Brettchen und sind dann sauer auf meinen Dottore und wechseln den Arzt und der muss dann wieder umziehen, weil er Pleite geht. In eine kleinere Praxis. Mit PVC statt Laminat.

Außerdem bin ich auch nicht der Hausmeister. Das ist gar nicht mein Job, Brettchen aus Aufzügen zu entfernen und in den Müll zu tragen. Was käme als Nächstes? Soll ich dann auch noch das Treppenhaus fegen, obwohl ich doch Aufzug fahre? Den Hof vielleicht auch, weil ich gerade dabei bin? Die Blumen schneiden, die Fassade streichen und die kaputte LED-Leuchte im ersten OG auswechseln? Ich bin doch nicht der Flocki des Hausmeisters. Ich werde dafür nicht bezahlt. Er schon, die faule Sau. Es ist sein Brett. Nicht meines. Mich geht das einen Scheißdreck an, das verdammte Brett. Stört mich ja auch nicht. Ist nicht mein Aufzug. It´s his fucking business. Und wenn er es in vier Monaten nicht ein einziges verdammtes Mal schafft, in den Aufzug zu sehen und ein verficktes Brett wegzuschmeißen, dann gehört er gefeuert. Achtkantig. Wenn jeder seine Brettchen im Aufzug stehenließe, dann sähe es in Deutschland aber bald GANZ anders aus!
Außerdem ist noch gar nicht klar, ob nicht doch ein Hund auf das Brettchen gepisst hat und ich habe auch wenig Lust, das herauszufinden.

Ich verlasse den Aufzug. Werfe noch einen Blick auf das Brettchen. Es wird auch morgen noch da sein. Und Übermorgen. Und nächste Woche und nächstes Jahr. Es wird bis zum Ende der Zeit oder dem Abriss des Hauses Aufzug fahren. Hoch, runter, hoch runter. Stoisch, klein, hölzern. Und wenn ich längst vergessen und nur ein Häufchen Asche bin – das Brettchen wird mich überleben. Im Aufzug oder unter der Heizung von Herrn Klöbner im vierten OG.

Wir werden uns wiedersehen. Das Brettchen und ich. Das, finde ich, hat etwas Tröstliches.

Mittwoch, 9. August 2017

De Ding aus einer annern Welt

Ich sitze gerade gemütlich vorm EDK beim schnellen Mittagessen mit Hähnchenschlegeln, einer Cola und einer guten Laune, als mir irgendjemand mit voller Wucht auf den Rücken haut und mich „NA, HAMMER MITTACH!!??“ anbrüllt. Ja, hammer und eigentlich will ich in Ruhe gelassen werden und mich irgendeinem dümmlichen Bento-Artikel („Wie ich es einmal mit meinen Putzgeräten trieb“) widmen, aber Henry, den alle seine Freunde Henry nennen, hat gerade blöderweise Zeit und hockt sich ungefragt zu mir.

„NA, SCHMECKTS?“ will er laut wissen und ich sage brav „geht so“, weil es doch der EDK ist und der bei Hähnchenschlegeln für kleines Geld nicht gerade ein 4-Sterne Tempel ist und alles Andere gelogen wäre. „ICH WÄÄSS, WO MER GUT ISST“, verkündet Henry quer über die Gasse und fügt dann hinzu „UNNE BEIM DING!“.

Ich werde hellhörig. Gutes Essen? Wo? „UNNE BEIM DING“ ist als Information zwar laut, aber zu wenig. Also hake ich nach. „Wo genau?“ „Na, da unne…“ sagt Henry merklich leiser, gestikuliert in Richtung Italien und legt die Stirne kraus, „wennde die Ding nunnerfährst, da am… na, wo der Fahrradlade ist… wie hässten des jedzz…“.

Ich kann förmlich hören, wie die Mechanik in Henrys Hirn knirscht, als er sein geistiges Google-Maps hochlädt. „Wennde vom Schloss aus…“ sagt er und hält inne, da ihm anscheinend der Weg vom Schloss zum Ding doch zu kompliziert erscheint. „Annerster!“ sagt er und hebt an: „Wennde unne am Määä…“, dann stoppt er wieder. Auch das scheint die falsche Route zu sein und ich überlege fieberhaft, wo ein „Fahrradlade“ in der Nähe unseres Schlosses sein könnte. Aber mir fällt nichts ein.

Henry stützt seine Stirn auf die Hände und versinkt in Verzweiflung. „Wenn Du obbe am Rathaus stehst…“ holt er erneut aus, ganz langsam, ohne mich anzusehen „…un dann nunner am Ding vorbei gehst…“. Ich habe meinen teuflischen Tag: „An welchem Ding gehe ich vorbei?“. „Ei unne, der Ding, wo immer die Würscht macht…“ erklärt er. „An der Metzgerei?“, helfe ich nach. Henry, erleichtert, „ja genau, Du gehst annde Metzgerei vorbei… aber wadde mal… der is doch fort, da is jedzz en Annerne drin…“. Oha, es wird gefährlich. Wenn Henry jetzt noch darüber nachdenkt, was der Nachfolger der Metzgerei Semmelmann („Qualität seit 1926“) jetzt herstellt, sitzen wir morgen früh noch. Ich helfe nach: „Egal, ich gehe an der ehemaligen Metzgerei vorbei…“ – „Ja genau, annde Metzgerei vorbei…“ echot Henry „und dann dadenach nach links… Nä, nach rechts…“ und er versinkt wieder in tiefes Grübeln. Ich stehe geistig vor der ehemaligen Metzgerei, in deren 70er-jahre gekachelten Wurstverkaufsraum sich heute ein Tattoo-Studio befindet und dessen wenig vertrauenserweckend aussehenden Besitzer sich rauchend öfter vor als im Laden befinden und weiß nicht, wohin ich nun muss. Und meine Mittagspause nähert sich dem Ende.

Ich versuche es mit raten: „Meinst Du den Griechen, drei Häuser weiter?“ Aber Henry schüttelt den Kopf. „Nä, den mään ich nit“, sagt er traurig. Gut, der Versuch war es wert. Ich versuche, Henrys Empfehlung einzukreisen. „Was hat der Laden denn für eine Küche?“, frage ich vorsichtig. Henry interpretiert die Frage aber falsch. „Des macht der Ding, der hat früher aach den Lade in Darmstadt gehabt. Herrgott, wie häässt denn der…“. Na prima. Meine harmlose Frage hat einen Nebenkriegsschauplatz aufgemacht, Henry weiß nicht nur, wie der Laden nicht heißt, sondern auch nicht, wer ihn nicht betreibt und wie ich auf jeden Fall nicht hinkomme. „Ganz bekannte Name…“ schiebt er brummelnd hinterher. Leider nicht bekannt genug, als dass er oder ich mich daran erinnern könnten.

Ich ändere die Taktik: „Du meinst aber nicht den Ding, der da in der Nähe von der Fußgängerzone…“ werfe ich ihm als Appetit-Häppchen hin. Henry schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „DER ITALIENER? UNNE AN DER KÖNISCHLUDDPOLLDSTRASSE? DER WO DES „BASILICO E POMODORE DA LEONARDO DA VINCI IN EXCELSIS DEO“ HAT UNN IN UNNERAFFERBACH WOHNT? DER MIT DERRE FISCHBLADDE WO DEN ESSELLKA FÄHRT? ICH HAB VON GUUUUUTEM ESSE GESPROCHE!!!!“ belehrt er mich laut brüllend und bemerkt gar nicht meine Verblüffung über sein plötzlich detailliertes Erinnerungsvermögen. „NÄ, ICH MÄÄN BEIM DING…“ und dann sackt Henry in sich zusammen, als hätte man ihm den Stecker gezogen, zurück in die Nachtschwärze seines Gehirns. An einen Ort, an den ihm niemand folgen kann. Nicht einmal er selbst. Links oder rechts an der ehemaligen Metzgerei vorbei.

Unerbittlich tickt die Uhr.

„Henry, sei mir nicht böse…“ sage ich zaghaft, weil ich gerne weg möchte und sicher irgendwann versehentlich DE DING besuchen werde oder auch nicht, aber Henry lässt nicht locker. Ich will aufstehen, aber Henry hält mich am Arm fest und sieht mir direkt in die Augen. „WÄÄSTE WAS? MIR TREFFE UNS HEUT AWEND UND DANN GEHN MER DA HIII“ schlägt er vor, aber ich habe heute Abend, ehm, schon irgendetwas Wichtiges plötzlich vor und kann nicht und will auch nicht im Freien übernachten, wenn Henry sich in der Altstadt verläuft und sage deswegen, dass ich etwas Wichtiges heute Abend vorhabe und das leider nicht geht.

Ich verabschiede mich von Henry und höre ihn im Weggehen noch „de Ding, de Ding“ wimmern und irgendwie tut er mir auch leid, aber ich muss jetzt echt wirklich…

Ein paar Tage später stehe ich unten am Main, in der Nähe des Fahrradladens und greife mir ans Herz, von dem ich fürchte, dass es stehen bleibt. Vor einer nagelneuen Kneipe hängt ein nagelneues Schild. „DAS DING“ nennt sich der nette Laden mit der netten Speisekarte. Und ich bin Henry jetzt ein verdammtes Essen schuldig!  

Mittwoch, 17. Mai 2017

Essen für den Weltfrieden

Da hänge ich gerade gemütlich in der Mittagspause herum, als mich die beste aller Frauen anwhatsappt, ob ich mit Ihr „Mittag machen“ will. Und weil ich mich ja sehr freue, wenn sie Zeit hat und weil ich mit ihr lieber Mittag als Babys mache, antworte ich mit „ja“. Und keine fünf Minuten später steht sie vor mir und fragt mich, wohin ich möchte. „Malediven“ wäre zwar die korrekte Antwort, aber das schaffen wir nicht in 60 Minuten. Und weil Malediven nicht geht, sage ich „Malediven geht nicht, deswegen weiß ich es nicht. Wo willst Du hin?“ „Da am Eck hat ein Bioladen aufgemacht, das könnten wir mal probieren.“ Und, um es mir   schmackhaft zu machen, was bei einem Bio-Laden per se nicht einfach ist, fügt sie ein „man kann da auch draußen sitzen“ hinzu.
„Draußen sitzen“ ist gut, denn es ist ein warmer Frühlingstag, die Vögel singen, ich könnte nach dem Essen rauchen und außerdem ist die Aussicht auf den Parkplatz vom Aldi während des Essens einfach idyllisch. Vielleicht würden wir ja sogar einen Parkrempler sehen. Außerdem soll ich ja nicht alt und dafür offen sein und beim Edeka würde ich sowieso nur ein ungesundes Leberkäsbrötchen essen und mir eine Cola-Aspartam ´reinziehen. Warum also nicht einmal im gesunden Bio-Laden essen?

Die korrekte Antwort lautet: Weil Bio-Läden Feindesland sind. Wie die Unterwäscheabteilung von Hunkemöller. Oder der Bike-Shop. Oder ein Orion-Laden. Ich scheue aus innerer Überzeugung vor allem zurück, was auch nur im Entferntesten etwas mit Pornographie oder „Nachhaltigkeit“ zu tun hat. Für mich hat beides etwa exhibitionistisches. Eine Art „schaut her, wie ekelhaft tolerant und weltoffen ich bin“. Bin ich ja eigentlich nicht. Also tolerant und weltoffen. Ekelhaft schon. Eigentlich würde ich nämlich jetzt gerne und lieber zu McDonalds. Aber dann wird morgen auf der Waage wieder viel geweint und ich will doch zeigen, wie tolerant und weltoffen ich bin. Ich habe eine Tarnung aufrecht zu erhalten.

Und so finden wir uns keine fünf Minuten später vor der Mittagstheke vom Bioladen wieder. Die Auswahl ist riesig: Es gibt Karotten-Spinat-Quiche (ohne Gluten), Kichererbsen-Mais-Stückchen (ohne Gene), Dinkel-AloeVera-Hörnchen (ohne Allergene), Petersilie-Knoblauch-Dressing (ohne Salat), Avocado-Gries-Falafelbällchen (ohne Spaß) und eine etwas vertrocknet wirkende Bioladenbäckerin (ohne Nüsse und gute Laune).

Es gibt nur nicht etwas, was mir irgendwie im Entferntesten schmecken könnte. Die komplette Auswahl kling nach dem übrig gebliebenen Buffett einer vorzeitig und zu Recht verlassenen Wahlparty der Grünen. Eigentlich fehlt mir nur noch ein Transparent über der Theke, auf dem in großen Lettern „Ja, das Zeug schmeckt scheiße, aber dafür rettet Ihr die Wale und den Regenwald“ steht. Da ich aber nicht gedenke, meinen ökologischen Fußabdruck durch Verhungern der Erde zu entziehen, entscheide ich mich für eine Rhabarber-Ingwer-Nudelholz-Bretzel mit mehrfach gesegnetem Meersalz aus dem Baikal-See und einen Hafer-Weizenkleie-Ananas-Donut. Dazu als Getränk eine biologische Limonade aus natürlichem Mineralwasser in der Geschmacksverirrung Mango-Holunder-Gurke. Für mein gutes-Gewissen-Essen lege ich schlanke zwölf Euronen auf den Tisch des Reformhauses und suche mir ein schattiges Plätzchen (ohne künstliche Aromen) in der Sonne.

Meine Traumfrau hat sich irgendetwas grünschimmelig Gefärbtes aus Teig gekauft, einmal ´reingebissen, angewidert geguckt und mich dann gefragt, ob ich probieren will. Will ich nicht. Sie hat es bestellt, sie soll es zur Strafe ganz alleine essen. Ich helfe ihr nicht! So leicht kommt sie mir nicht davon.

Die besinnliche Zeit vor dem ersten Bissen erlaubt es mir, das biologische Publikum in Augenschein zu nehmen. Jetzt, um die Mittagszeit sind das zwei schlanke Herren im reifen Alter, die so Kasperfahrradanzüge tragen und sich nicht die Mühe gemacht haben, die halben Walnüsschen, die sie als Helm tragen, zum Essen abzunehmen sowie mehrere Damen zwischen 55 und 65 mit „nie-wieder-Sex“-Kurzhaarschnitten, die biologisch einwandfreie und abbaubare silberne Farben haben. Die tragen Kleidung, die selbst KiK peinlich wäre und haben kein Gramm Fett zu viel. Und auch keinen Mann. Typ „emanzipierte Lehrerin für Englisch und Sport“. Genau der Typ Frau, der „meine Pussy gehört mir“ ruft und dem ich als Mann gerne „Genau! Und Ihr dürft sie auch behalten!“ entgegenrufen möchte. Aber ich bin ja total tolerant und rufe nichts entgegen.

Sondern beiße in den Bio-Abfall vor mir.

Sagen wir es so: Ich brauche weder Wale noch Regenwälder. Es schmeckt nach – nichts. Es ist, als würde ich in eine geschmacklose Wolke beißen. Ähnlich wie bei McDonalds, nur ohne den Geschmack von Fleisch, Gurken, Senf, Brot, Salz und Pfeffer und diesem einen Scheibchen traurigen Schmelzkäses. Das Ganze ist eine puristische Offenbarung. Ein Essen, das Haltung und Lebenseinstellung ausdrückt, sofern diese geschmacklos ist. Ein Essen, das den Zweck der Nahrungsaufnahme auf genau das reduziert. Wahrer Genuss liegt nämlich im Verzicht. In der Reduzierung. Im Bewusstsein, nachhaltig gegessen zu haben. Und die Welt ein wenig besser gemacht zu haben. Mit diesem Zeug habe ich den Großkonzernen eins ausgewischt und das Finanzkapital in die Schranken gewiesen. Und aufgrund der Ballaststoffe werde ich später sogar… - aber lassen wir das.

Während die Traumfrau lustlos und geistesabwesend an ihrer biologisch abbaubaren Nahrungssimulation herumbeißt, versuche ich, das Zeug einem streunenden Hund anzudrehen, dessen Herrchen soeben 100,- € in Dosenpfand in den Aldi geschleppt hat, aber der Hund dreht sich angeekelt weg. Er ist Besseres gewohnt. Ich auch.

So bleibt mir nichts Anderes übrig, als das Schaumgummizeug irgendwie mit dem seltsamen Getränk nach unten zu würgen, denn wegwerfen kann ich es nicht, weil dann hungernde afrikanische Kinder böse auf mich sind und die in Griechenland angestrandeten Schutzsuchenden froh wären, wenn sie auf Nichts herumbeißen könnten und ich gelobe, nie mehr über Asiaten zu lästern, die Hunde, Wale oder rohen Fisch verspeisen.


Sie müssen vorher im Bioladen gewesen sein.

Montag, 9. Januar 2017

Bettgeflüster


Der Tag war schön, aber lange und er war lange, aber schön. Deswegen liege ich um Drölf Uhr nachts brav im Bettchen, die Frau des Herzens an meiner Seite, und habe nur einen einzigen Wunsch. Ich will schlafen. Ohne Doppeldeutigkeit. Augen zumachen, System auf „stand-by“, nur noch das vegetative Nervensystem arbeiten lassen. Verdauen und Atmen. Das soll es sein.

Isses aber nicht. Denn ich muss mitten in der Nacht kurz raus, weil a) mein vegetatives Nervensystem einen Job beendet hat und b) mich irgendetwas am Oberarm juckt. Also tu ich, was ein Mann tun muss und auch mit nur halboffenen Augen tun kann und steige zurück in den Hort der Ruhe. Doof ist es, wenn die Frau des Herzens einen leichten Schlaf hat. „Was machst Du?“ fragt sie und ich antworte brav „ich war auf dem Klo“ und schließe die Augen, um da weiter zu machen, wo ich aufgehört habe. Es ist absolut still im Zimmer.

„Du?“ höre ich im Halbeinschlaf. „Duhu? Geht’s Dir gut?“ „Hmm“ brumme ich zurück, weil mir für „ja“ die Kraft fehlt und damit wäre das Thema für mich erledigt. Da bin ich aber der einzige. „Duhu?“ höre ich durch die Halle des Petersdomes, in der ich mich gerade befinde, „Duhu? Geht es Dir WIRKLICH gut?“ „Jagehtgut!“

Anscheinend ist die Antwort aber unbefriedigend. „Duhu? Was juckt Dich? Du kratzt Dich da am Arm…“ Das hatte ich verdrängt, ich war gerade am Einschlafen und was mich juckte, juckte mich eigentlich schon nicht mehr, weil ich mich gekratzt hatte und gerade auf den Arc de Triomphe in Rom zulief. „Dahatmichwohletwasgestochen“ seufze ich und lege ihr vorsichtshalber die Hand auf den Mund. Sie dreht den Kopf aus der Hand. „Duhu? Was hat Dich denn gestochen?“ will sie wissen.

Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich will schlafen. Ich schaue morgen nach. Nicht jetzt. Vielleicht eine Mücke, vielleicht ein Floh, vielleicht die Gesamtsituation, keine Ahnung. Ich will schlafen. „Weissischnitt“ brummle ich zurück.

Schweigen. Etwa 30 Sekunden. Genau so lange, wie vom Arc de Triomphe links zur Hagia Sophia in Berlin abzubiegen.

„Duhuu? Woran denkst Du gerade?“

Okay.

Der Fachausdruck lautet „Kriegserklärung“. Dann reden wir eben. Ich habe ja gerade nichts Besseres zu tun.

„Ich denke gerade daran, dass das Finanzamt von mir einen Haufen Geld haben will, von dem ich interessiert wäre, woher ich es nehmen soll. Ich denke daran, dass wir die „sichere Drittstaatenregelung“ einführen oder alternativ für unsichere Drittstaaten eine Reisewarnung aussprechen sollten. Ich denke daran, dass trotz der derzeitigen Niedrigzinsphase meine Altersversorgung wegen der Inflation den Bach hinuntergehen wird und ich mir eigentlich eine vermietete Immobilie kaufen müsste, zu der ich durchaus das Eigenkapital hätte, wenn das Finanzamt auf meine Steuern verzichten würde, die es aber dazu braucht, mir später eine Grundhilfe und soziale Absicherung zu finanzieren, weil ja meine Altersversorgung von der Inflation und später dann von der Abgeltungssteuer aufgefressen wird, ich denke daran, dass ich, wenn ich einen handwerklichen Beruf gelernt hätte, morgen problemlos nach Österreich oder Polen auswandern könnte, weil ein Dachstuhl ein Dachstuhl ist und es völlig egal ist, wo er aufgestellt wird, aber da ich in der Finanzdienstleistungsbranche arbeite, eben nicht einfach auswandern kann, weil es in Österreich nicht das BGB gibt und in Großbritannien anglikanisches und nicht römisches Recht gilt und ich komplett umlernen müsste und dafür mit 50 Lenzen schon etwas zu alt bin, ganz abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, was „Privathaftpflichtversicherung“ auf thai oder „Schadenersatzausfalldeckung“ auf polnisch oder „Unterversicherungsverzichtsklausel“ auf slowakisch heißt, ich also vulgo keine Chance habe, dieses wunderbare Fleckchen Erde hier als „schon immer hier Seiender“ zu verlassen und irgendwo „neu hinzu zu kommen“, was ich ziemlich scheiße finde, da mir dieser Staat und seine Politik böse auf den Schweif gehen, ferner überlege ich, was mich wohl gestochen haben könnte, weil, es juckt wirklich wie Sau und ich könnte mir im Moment die Haut in Fetzen vom Oberarm kratzen und wenn das, mitten im Winter, wirklich eine Stechmücke gewesen wäre, sie ungefähr jetzt die Größe einer Amsel haben müsste, es mit Sicherheit auch kein Flohbiss ist, da ich keine Haustieren halte und Menschen mit Haustieren meide und ich außerdem dann, so habe ich es vorhin bei Wikipedia auf dem Klo gelesen, mehrere Stiche in einer Linie haben müsste, was ich aber nicht habe, es aber auch keine Zecke gewesen sein kann, da ich freie Natur eigentlich nach Möglichkeit meide, was dazu führt, dass ich Übergewicht habe, was mich andererseits wiederum vielleicht sterben lässt, bevor mir das Geld aus der Rente komplett ausgegangen ist, womit sich wieder der Kreis zum Finanzamt und meinem erbärmlichen Kontostand schließt und zu einer tiefsitzenden Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation führt, die mir den Schlaf raubt. Außerdem muss ich, glaube ich, schon wieder pinkeln, weil mir Deine Hand auf die Blase drückt. So sieht das aus. Weitere Fragen?“

Die Antwort ist ein tiefes Schnarchen. Sie ist eingeschlafen. Wahrscheinlich läuft sie gerade von der Hagia Sophia zum Big Ben in Wien. Aber sie hat ja auch eine Gute-Nacht-Geschichte bekommen. Sie hat es gut. Sie kann schlafen. Ich nicht. Ich bin so wach wie ein Solartaschenrechner im Hochsommer.  Ich gehe raus auf die Loggia, zünde mir eine Zigarette an und schreibe mir meine Schlaflosigkeit von der Sssssss… wrkskrftl    

 

Donnerstag, 9. Juni 2016

Platzkonzert


In jeder Beziehung kommt der Moment, in dem sich der geliebte Partner, dieser Adonis und weltgewandte James Bond für die Mittelschicht und die Brigitte Bardot für Fernsehillustriertenleser plötzlich als profaner Mensch mit Stärken – aber auch mit Schwächen outet.

Ich hatte mein Coming-out als Mensch anlässlich einer Reise, bei der ich ein kleines, sympathisches und intimes Hotel für Romantik zu Zweit gebucht hatte. Und hätte ich gewusst, wie verdammt intim dieses Hotel ist, ich hätte… Aber der Reihe nach:

Das „Love London Live“ liegt in einer kleinen, verschwiegenen Seitengasse des wahnsinnig romantischen und sympathischen Picadilly Circus, wo sich die Liebenden Londons treffen, um von englischen Taxis gemeinsam überfahren zu werden. Bei diesem sympathischen Boutiquehotel treffen burleske Einrichtung auf den Versuch, auf 10m² ein Doppelbett, eine Toilette, eine Dusche, einen Schrank und ein Waschbecken unterzubringen. Gefangene in Guantanamo haben mehr Platz für sich, aber man will ja auch die Stadt sehen und sich nicht im Hotelzimmer aufhalten, nicht wahr?

Der eigentliche Punkt ist jedoch, dass den Hotelbetreibern ihr kleines Laborrattenexperiment dadurch gelungen ist, dass sie die Wände von Toilette und Dusche derart dünn gehalten haben, dass japanische Innenwände dagegen wie Betonarmierungen wirken.

Und so sieht das aus: Da liegt die schönste aller Frauen neben mir erschöpft im Bett und die Burger des kombinierten Mittag- und Abendessens klopfen ungeduldig beim Pförtner meines Magens an und bitten um Auslass. Nun wäre es ja nicht so, dass man selbst nicht schon öfter in Anwesenheit des Partners mal eben Dinge getan hätte, die man als Mensch nun einmal tun muss, wenn man nicht platzen will, aber da war stets ein atombombensicheres, vor allem aber schalldichtes Refugium in der Nähe, in das man sich gutgelaunt mit Handy und Toilettenpapier hätte zurückziehen können, um so zu tun, als wasche man sich nur schnell die Hände oder pudere sich das Näschen…

Nicht so im „Love London Live“. Hier liege ich ja quasi mit den Füssen sowieso schon in der Toilettenschüssel, wenn ich mich nur fest genug ausstrecke, was ich tunlichst vermeide. Der einzige Lichtblick im Sackdunklen ist, dass Melanie einen Schlaf wie eine Tote hat und in der Regel selbst Luftschutzsirenen und das durchdringende „Kikeriki“ ihres verdammten Android-Handys in ihre Träume einbauen kann, wenn sie nur schlafen kann. Und so liege ich im Dunklen und forsche nach der Verhaltensweise meines Mageninhaltes.

Zuerst bahnt sich ein kleiner, frecher und dankenswerter Weise laut- und geruchsloser Wind seinen Weg nach draußen, ein üblicherweise sicheres Zeichen, dass da noch mehr ist, was ´raus will. Und zwar bald. Ich presse die Pobacken zusammen wie ein Pferdejockey und flüchte vorsichtig und möglichst leise in den Luftschutzbunker aus Pappmaché, der nur eine Armlänge entfernt ist.

Es reicht gerade noch, die Schlafanzughose nach unten zu ziehen. Was jetzt folgt, ist ein wunderbares Crescendo Beethovens 9ter Symphonie, gespielt auf der Arschposaune mit einer überraschenden Klangfülle, wie sie wohl nur die Baked Beans, die zu dem Höllenburger serviert wurden, hervorbringen können. Und mitten in den Teil mit dem „Babababaaaa“ höre ich eine Stimme rufen: „Thilo? Ist alles in Ordnung?“

Ich schätze, dass es Gottes Art von Humor war, mich hier zur Ordnung zu rufen. Die korrekte Antwort wäre jetzt „Nein, nichts ist in Ordnung, weil ich Dich soeben aus dem Schlaf gefurzt habe und noch lange nicht am Ende mit dieser kleinen Symphonie für eine Arschgeige bin und mich die Luft in meinem Bauch wie ein Heißluftballon an der Klodecke schweben lässt. Die Thermik hier im Raum ist wunderbar. Tu mir den Gefallen und verlasse das Gebäude. Nach Calais. Oder Norwegen. Auf jeden Fall weit weg! Wir sehen uns eines Tages wieder, wenn Du diesen Schock überwunden hast. Allerdings werde ich da schon 10 Jahre tot sein und wie so was riecht, erfährst Du, wenn ich die Türe aufmache, um ´rauszukommen…“

Stattdessen entscheide ich mich aber für ein halb-fröhliches, halb gestöhntes „ja, alles prima, alles schick, der, ehm, Toilettendeckel, also die Brille, das Dings da, das, ehm, hehe, knarzt sehr…“

„Bei mir nicht“ antwortet meine Lady Godiva im Halbschlaf, dann ist ein kurzes „wumpf“ zu hören, als ein Körper wieder auf die Matratze fällt, während sich der letzte Wind of Change mit einem leisen Legato verabschiedet.

Ich sitze noch eine Weile vor mich hin, ob noch etwas kommt oder ich mich gefahrlos aus der Kammer des Schreckens entfernen kann. Immerhin will ich mir noch die Hände waschen und muss dabei im Stockdunklen über ein Doppelbett, zwei Koffer und eine leere Rotweinflasche steigen, was schon noch einmal ein veritabler Parcours sein wird, als sich ein neues Geräusch durch die Papierwand hören lässt.

Es ist ein tiefes „Rrrrrrrr“, wie es wohl nur eine Gruppe von Holzfällern mit schweren Kettensägen im brasilianischen Regenwald hervorbringt, wen mal wieder „ein Fußballfeld gerodet wird“. Nur sind wir nicht im brasilianischen Regenwald und nachts um Drei sind auch in London keine Holzfäller unterwegs. Zwischendurch ist immer mal ein kleines Grunzen zu hören, das ich auch von mir kenne, wenn mir irgendwelche Körpersäfte im Rachen hängen…

Eingeschlafen. Tief. Ich schleiche über meine Hindernisbahn, wasche mir leise die Hände und nehme Melanie, die das Geräusch einer Panzerparade auf dem Champs-Elysee imitiert, in den Arm.

Am Ende des Tages und am Beginn des neuen Tages sind wir alle nur Mensch. Leider und Gottseidank.

Mittwoch, 11. Mai 2016

2658O


Neben den üblichen Begleiterscheinungen des Alterns wie der hochflexiblen Bestellung in Restaurants („Das Wiener Schnitzel bitte ohne Panade, weil ich von der Sodbrennen kriege und statt der Pommes bitte Salat, weil ich kein Fett vertrage, aber bitte auch keine Zwiebeln im Salat, da ich von denen Hautausschlag bekomme und wenn Sie statt Schweine- vielleicht Putenfleisch verwenden könnten? Ja, dazu en Wasser, aber bitte still,, sonst muss ich aufstoßen“), habe ich festgestellt, dass die Gedächtnisleistung nachlässt. Zumindest manchmal. Aber vor allem dann, wenn es wichtig ist.

Da stehe ich neulich vor dem Bankautomaten meiner Wahl, um mir Bares zu holen, so lange es Bares noch gibt und ich das auf dem Konto habe, hinter mir eine Schlange bis Lissabon, weil es Samstag ist und ich gebe meine Geheimzahl ein und meinen Wunschbetrag. Ich habe das Portemonnaie schon in freudiger Erwartung des Geldregens geöffnet, als mir der Automat der örtlichen Raiffeisensparkasse mit einem hübschen roten Balken unterlegt hämisch mitteilt: „falsche PIN-Eingabe“. Und, etwas  tröstlich, „PIN bitte erneut eingeben.“

Tja.

Ich habe mir die PIN nur am Anfang gemerkt, seitdem gebe ich ein Muster ein. Ich starre auf die Tastatur. Haben die die ´rumgedreht? Die 1 links oben statt links unten? Oder isses normalerweise umgekehrt? Verdammt… Ich weiß es nicht… Meine Geheimzahl hatte etwas mit dem Kriegsende zu tun. Nur welchem? 1918 oder 1945? Es könnte auch 1815 oder 1866 oder 1871 gewesen sein. Welcher Krieg war es denn?

Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt. In meinen Rücken bohren sich die Dolche der Blicke der anderen Kontoplünderer. „Kein Geld auf dem Konto, aber abheben wollen“ sagen die Blicke. „Depp“ sagen die Blicke.

Ich entscheide mich für den zweiten Weltkrieg, aber rückwärts. 5491.

„Falsche PIN-Eingabe“ höhnt mich der Geldautomat an.

Okay. Konzentration. Einen Versuch habe ich noch. Es kam eine 7 drin vor. Oder eine 8. Oder eine 9. Eventuell auch eine 0, eine 1 und eine 3. Aber auch eine 2 oder 4 wäre möglich. Ich habe eine unendliche Zahl von Möglichkeiten  vor mir. Es ist ein Spiel 4 aus 10, was eine höhere Gewinnquote  als beim Lotto ist. Draußen hockt meine Verabredung im Café gegenüber und wartet, dass ich die Rechnung zahle. Drinnen warten die anderen Steuerzahler hinter mir, räuspern sich und scharren mit den Füßen. Irgendeiner knurrt „wird´s bald?“. Es ist aber wie beim Pinkeln. Ich kann nicht, wenn einer neben mir steht. Mein Kopf ist so leer wie die Minen von Moria. Und so voll mit Zahlen, ich könnte ein Universum aus Mathematik schaffen. Aber ich brauch nur 4 Ziffern.

Es ist lächerlich: ich könnte die komplette Schlange hinter mir zum Essen einladen, wenn mir nur die verfickten Zahlen einfallen würden. Ich habe damals, 1992, die PIN der Bank genommen und mir keine eigene herausgesucht. 1945 ist, glaube ich, der Entsperrcode für mein Handy und mir fällt spontan die Telefonnummer 6118 meiner ersten Freundin ein, damals, 1983, aber die nutzt mich jetzt auch nichts. 209 sind die beiden letzten Ziffern meiner Autonummer, zumal es drei Ziffern sind, was immer noch eine zu wenig ist. Ich erinnere mich an die 515 2364, die ist meine erste Handynummer, hilft mir aber genauso wenig wie die Spontaneingebung 3002 als die letzten vier Ziffern meiner Kreditkarte. Es hilft nichts. Mir fällt jede sinnlose Nummer seit 200966 ein, was zufällig mein Geburtsdatum ist und das ich schlauerweise für gar nichts verwendet habe. Ich stehe unter Leistungsdruck.

Ich hatte irgendein Muster bisher. Ich glaube, es war ein Pfeil. Was die Möglichkeiten auf 1579 oder 1597 oder 9524 oder 9542 eingrenzen würde, aber mir sagt das alles nichts. Es könnte auch 7562 oder 7526 oder 3584 oder 3548 sein. Oder aber es war ein L. Eine L-Form. Genau. Ich sortiere meine Gedanken. 9632. Ich bin ganz sicher. Ganz sicher, dass ich noch nie etwas von dieser Nummer gehört habe. Ich meine, es war eher eine Y-Form, weil ich damals noch dachte „oh, eine Y-Form“, aber das dachte ich damals beim Entsperrcode für die SIM-Karte auf dem Handy.

„Bis der fertig ist, haben wir wieder die D-Mark“ höre ich einen Mann mit Schnauzbart hinter mir laut sagen.

„Ich weiß meine Nummer nicht mehr“ gebe ich mich geschlagen und drehe mich um. „Und ich habe nur noch eine Chance.“ „Dann machen Sie halt Platz für die, die ein besseres Gedächtnis haben“ schnauzt der Schnauzbartmann zurück.

Ich überlege, wo ich mir die Nummer notiert haben könnte. Auf dem Handy? Bis ich das durchsucht habe, ist mein Handy-Vertrag abgelaufen. Der Umschlag mit der richtigen PIN liegt in der linken unteren Schublade meines Schreibtisches. Oder oben rechts im Küchenschrank, wo irgendwie immer alles liegt. Genauso gut könnte das Zeug auf der Venus sein. Ich komme jetzt nicht dran.

Ich drehe mich wieder zum Automaten und schließe die Augen. Meine linke Hand wandert auf die Tastatur. Ich blende alle Geräusche aus und höre auf die Stimme des Universums. Um mich herum wird es ganz ruhig. So unendlich ruhig. Ich tauche in die Sterne, in die Galaxien, Raum und Zeit haben keine Bedeutung mehr. Dann durchflutet es mich wie pure Energie. Die Finger meiner linken Hand beginnen sich wie von selbst zu bewegen. Zeigefinger. Druck. Mittelfinger. Druck. Mittelfinger. Druck. Ringfinger. Druck.

Ich öffne die Augen. „Falsche PIN-Eingabe. Ihre Karte wird aus Sicherheitsgründen einbehalten“ erklärt mir der Automat, die alte Drecksau.

Ich trete enttäuscht, zornig und verwirrt einen Schritt zurück. Ich bin bis in mein tiefstes Mark erschüttert und gedemütigt. Ich bin alt. Ich weiß meine PIN-Nummer nicht mehr. Und als ich mein Portemonnaie einstecken will, fällt mir meine Bankkarte aus einem der Steckfelder.

Ich bin dann unter dem gemurmelten Beifall der anderen Wartenden gegangen. An einen anderen Automaten. Ich habe blind meine PIN eingegeben und habe Geld abgehoben. Und ich weiß bis heute nicht, welche Karte ich in den Automaten gesteckt habe. Aber sie hat mir nie gefehlt. Manchmal ist das Universum wirklich ein Arsch.