Mittwoch, 11. Mai 2016

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Neben den üblichen Begleiterscheinungen des Alterns wie der hochflexiblen Bestellung in Restaurants („Das Wiener Schnitzel bitte ohne Panade, weil ich von der Sodbrennen kriege und statt der Pommes bitte Salat, weil ich kein Fett vertrage, aber bitte auch keine Zwiebeln im Salat, da ich von denen Hautausschlag bekomme und wenn Sie statt Schweine- vielleicht Putenfleisch verwenden könnten? Ja, dazu en Wasser, aber bitte still,, sonst muss ich aufstoßen“), habe ich festgestellt, dass die Gedächtnisleistung nachlässt. Zumindest manchmal. Aber vor allem dann, wenn es wichtig ist.

Da stehe ich neulich vor dem Bankautomaten meiner Wahl, um mir Bares zu holen, so lange es Bares noch gibt und ich das auf dem Konto habe, hinter mir eine Schlange bis Lissabon, weil es Samstag ist und ich gebe meine Geheimzahl ein und meinen Wunschbetrag. Ich habe das Portemonnaie schon in freudiger Erwartung des Geldregens geöffnet, als mir der Automat der örtlichen Raiffeisensparkasse mit einem hübschen roten Balken unterlegt hämisch mitteilt: „falsche PIN-Eingabe“. Und, etwas  tröstlich, „PIN bitte erneut eingeben.“

Tja.

Ich habe mir die PIN nur am Anfang gemerkt, seitdem gebe ich ein Muster ein. Ich starre auf die Tastatur. Haben die die ´rumgedreht? Die 1 links oben statt links unten? Oder isses normalerweise umgekehrt? Verdammt… Ich weiß es nicht… Meine Geheimzahl hatte etwas mit dem Kriegsende zu tun. Nur welchem? 1918 oder 1945? Es könnte auch 1815 oder 1866 oder 1871 gewesen sein. Welcher Krieg war es denn?

Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt. In meinen Rücken bohren sich die Dolche der Blicke der anderen Kontoplünderer. „Kein Geld auf dem Konto, aber abheben wollen“ sagen die Blicke. „Depp“ sagen die Blicke.

Ich entscheide mich für den zweiten Weltkrieg, aber rückwärts. 5491.

„Falsche PIN-Eingabe“ höhnt mich der Geldautomat an.

Okay. Konzentration. Einen Versuch habe ich noch. Es kam eine 7 drin vor. Oder eine 8. Oder eine 9. Eventuell auch eine 0, eine 1 und eine 3. Aber auch eine 2 oder 4 wäre möglich. Ich habe eine unendliche Zahl von Möglichkeiten  vor mir. Es ist ein Spiel 4 aus 10, was eine höhere Gewinnquote  als beim Lotto ist. Draußen hockt meine Verabredung im Café gegenüber und wartet, dass ich die Rechnung zahle. Drinnen warten die anderen Steuerzahler hinter mir, räuspern sich und scharren mit den Füßen. Irgendeiner knurrt „wird´s bald?“. Es ist aber wie beim Pinkeln. Ich kann nicht, wenn einer neben mir steht. Mein Kopf ist so leer wie die Minen von Moria. Und so voll mit Zahlen, ich könnte ein Universum aus Mathematik schaffen. Aber ich brauch nur 4 Ziffern.

Es ist lächerlich: ich könnte die komplette Schlange hinter mir zum Essen einladen, wenn mir nur die verfickten Zahlen einfallen würden. Ich habe damals, 1992, die PIN der Bank genommen und mir keine eigene herausgesucht. 1945 ist, glaube ich, der Entsperrcode für mein Handy und mir fällt spontan die Telefonnummer 6118 meiner ersten Freundin ein, damals, 1983, aber die nutzt mich jetzt auch nichts. 209 sind die beiden letzten Ziffern meiner Autonummer, zumal es drei Ziffern sind, was immer noch eine zu wenig ist. Ich erinnere mich an die 515 2364, die ist meine erste Handynummer, hilft mir aber genauso wenig wie die Spontaneingebung 3002 als die letzten vier Ziffern meiner Kreditkarte. Es hilft nichts. Mir fällt jede sinnlose Nummer seit 200966 ein, was zufällig mein Geburtsdatum ist und das ich schlauerweise für gar nichts verwendet habe. Ich stehe unter Leistungsdruck.

Ich hatte irgendein Muster bisher. Ich glaube, es war ein Pfeil. Was die Möglichkeiten auf 1579 oder 1597 oder 9524 oder 9542 eingrenzen würde, aber mir sagt das alles nichts. Es könnte auch 7562 oder 7526 oder 3584 oder 3548 sein. Oder aber es war ein L. Eine L-Form. Genau. Ich sortiere meine Gedanken. 9632. Ich bin ganz sicher. Ganz sicher, dass ich noch nie etwas von dieser Nummer gehört habe. Ich meine, es war eher eine Y-Form, weil ich damals noch dachte „oh, eine Y-Form“, aber das dachte ich damals beim Entsperrcode für die SIM-Karte auf dem Handy.

„Bis der fertig ist, haben wir wieder die D-Mark“ höre ich einen Mann mit Schnauzbart hinter mir laut sagen.

„Ich weiß meine Nummer nicht mehr“ gebe ich mich geschlagen und drehe mich um. „Und ich habe nur noch eine Chance.“ „Dann machen Sie halt Platz für die, die ein besseres Gedächtnis haben“ schnauzt der Schnauzbartmann zurück.

Ich überlege, wo ich mir die Nummer notiert haben könnte. Auf dem Handy? Bis ich das durchsucht habe, ist mein Handy-Vertrag abgelaufen. Der Umschlag mit der richtigen PIN liegt in der linken unteren Schublade meines Schreibtisches. Oder oben rechts im Küchenschrank, wo irgendwie immer alles liegt. Genauso gut könnte das Zeug auf der Venus sein. Ich komme jetzt nicht dran.

Ich drehe mich wieder zum Automaten und schließe die Augen. Meine linke Hand wandert auf die Tastatur. Ich blende alle Geräusche aus und höre auf die Stimme des Universums. Um mich herum wird es ganz ruhig. So unendlich ruhig. Ich tauche in die Sterne, in die Galaxien, Raum und Zeit haben keine Bedeutung mehr. Dann durchflutet es mich wie pure Energie. Die Finger meiner linken Hand beginnen sich wie von selbst zu bewegen. Zeigefinger. Druck. Mittelfinger. Druck. Mittelfinger. Druck. Ringfinger. Druck.

Ich öffne die Augen. „Falsche PIN-Eingabe. Ihre Karte wird aus Sicherheitsgründen einbehalten“ erklärt mir der Automat, die alte Drecksau.

Ich trete enttäuscht, zornig und verwirrt einen Schritt zurück. Ich bin bis in mein tiefstes Mark erschüttert und gedemütigt. Ich bin alt. Ich weiß meine PIN-Nummer nicht mehr. Und als ich mein Portemonnaie einstecken will, fällt mir meine Bankkarte aus einem der Steckfelder.

Ich bin dann unter dem gemurmelten Beifall der anderen Wartenden gegangen. An einen anderen Automaten. Ich habe blind meine PIN eingegeben und habe Geld abgehoben. Und ich weiß bis heute nicht, welche Karte ich in den Automaten gesteckt habe. Aber sie hat mir nie gefehlt. Manchmal ist das Universum wirklich ein Arsch.


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