Samstag, 8. Oktober 2011

Beim Friseur

Ich bekenne mich schuldig. Ich gehe gerne zum Friseur. Man sitzt da nett in einem Stuhl, bekommt einen Kaffee und manchmal ein Stück Kuchen und wenn man, wie ich, Angst vor Schönheitsoperationen hat, dann auch noch nebenbei einen hübschen und meist schmerzlosen Haarschnitt des Resthaupthaares. Und ein Gespräch kriegt man auch. Vom Friseur.

Ich glaube, es war Theodore Roosevelt, der gesagt hat: „Ich bin sehr glücklich, in einem Land mit derart fähigen Männern zu leben, die wissen, wie man die Weltwirtschaftskrise löst, die Staatsverschuldung senkt und den Haushalt ausgleicht. Leider sind alle diese Menschen mit Haareschneiden und Taxifahren beschäftigt“.

Nun, letzte Woche war ich mal wieder bei meinem persönlichen Friseur. Der kann Haare schneiden wie Gott persönlich und ist außerdem homosexuell, was zwei Grundvoraussetzungen für eine lange, intensive und haarige Geschäftsbeziehung sind.

Und ich hatte schlechte Laune und wollte einfach nur einen Haarschnitt und meine Ruhe. Das ist nun aber kein Ding meines Friseurs. Also nicht das mit dem Haarschnitt, sondern das mit der Ruhe. Und dann fragt er mich, wie es mir geht.

Es geht mir schlecht. Ich habe heute Morgen massiv einen Vorgang verbockt, mein Ältester hat einen Sechser in Physik abgeliefert, die Mittlere ihre Periode gekriegt und der Jüngste einem Mitschüler einen Nasenstüber verpasst, sodass der andere Knabe blutete und wir einen Anruf von der Schule bekamen. Mein Konto ist überzogen, deswegen ist meine Frau am Maulen und jenes eine Muttermal an einer sehr intimen Stelle sieht etwas seltsam aus. Mein Tag ist gelaufen und all das geht meinen Friseur einen Scheißdreck an.

Er soll mir heute bitte nur „einmal Haare schneiden mit ohne Gespräch“ und die Klappe halten.

Jetzt kann ich ihm aber das nicht sagen und außerdem meint er es ja nur nett und vielleicht schneidet er mir sonst ein Ohr ab, aus Rache und weil er es kann und weil ich da mit einem Ganzkörperschlabberlatz völlig wehrlos in seinem Stuhl sitze.

Also ändere ich meine Taktik und sage „ach, ich knoble den ganzen Tag schon an einer Formel herum, die die Ausdehnung der Zeit im Universum erklären und damit Zeitreisen möglich machen könnte“.

„Aha“ sagt er und schnippelt und ich denke mir, dass das soeben ein vortrefflicher und ziemlich cleverer Mannstopp war.

„Die Zeit…“ sagt er nachdenklich und schneidet ein paar Haarspitzen.

„Du siehst die Zeit als linear an, gell?“ *schnippschnipp* „ganz klassisch: gestern, heute, morgen“ *schnippschnapp* „hast Du Dir schon mal überlegt, dass das falsch sein könnte?“

Nanu? Mein Friseur, das Physik- und Philosophiegenie?

„Wie meinst Du das?“ frage ich ihn neugierig.

„Najanaja…“ *schnippschnipp* „ich erzähle Dir ja nichts Neues. Vielleicht liegt ja Heisenberg im Grunde doch falsch, wenn er behauptet, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau messbar sind. Möglicherweise stimmt ja die Unschärferelation zwischen Energie und Zeit nach der heisenbergschen Definition nicht“ *schnippschnipp* „Dass die Zeitunschärfe Delta t angeblich nicht als statistische Streuung definierbar sein soll, da die Zeit in der Quantenmechanik angeblich nur ein Parameter und kein Operator sein soll, halte ich für gewagt und nicht der Weisheit letzter Schluss.“

Schnippschnapp und die Nackenhaare fallen.

„…und nur, weil er behauptet, dass Delta E Delta T größer ungleich H ist, muss das noch lange nicht richtig sein…“ Er macht sich ans Haupthaar *schnipp*

Ich gestehe, dass ich das Gespräch in diesem Moment geistig verlassen habe, da ich von Quantenmechanik weniger Ahnung als das Meerschweinchen meiner Tochter habe, aber mein Friseur ist jetzt so richtig in Fahrt.

„Die haben dem Typen dafür den Nobelpreis verliehen, aber meinst Du, irgendjemand käme mal auf die Idee, Zeit nicht als lineares Modell, sondern als Kugel zu betrachten?“ *schnippschnipp*

Nein, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber ausgerechnet vor meinem verdammten Friseur werde ich mich jetzt nicht als quantenphysischer Laie outen.

„Ehm, das ist interessant“ sage ich, damit ich überhaupt etwas sage.

„Und dann diese geradezu unglaubliche und stümperhafte Behauptung, ein Teilchen in einem endlichen Intervall Delta X größer Null erfülle die Standardabweichung für den Impuls in der Ungleichung Omega P Delta X größergleich pi Intervall (und da gilt das Gleichheitszeichen frecherweise nur für die Cosinusfunktionen), dazu gehört schon eine gehörige Portion Arroganz und Chuzpe, das so zu formulieren, ohne auch nur einmal ansatzweise einem viel logischeren Gedankenansatz zu folgen! Aber das kommt eben dabei raus, wenn man Impulsmengen nur an den Teilchen misst, die im Intervall Delta X sind.“

*Schnippschnipp*

„Und dann stellt sich ein Blender wie Nils Bor auch noch hin und ist sich nicht zu blöde, in der Kopenhagener Interpretation Quantenmechanik nicht nur als nichtreal, sondern auch noch als nichtlokal zu bezeichnen. Und das nur, weil angeblich der Zustandsvektor eines quantenmechanisch Systems gleichzeitig überall die Wahrscheinlichkeitsamplituden festlegt.“ *schnipp*

„So“ sagt er „fertig“. Er hält mir einen Spiegel hinter den Kopf, damit ich das Werk in meinem Nacken bewundern kann. „Du solltest Deine Theorie also dahingehend noch einmal überarbeiten“ sagt er auch. Und fragt: „isses so recht?“

Ja, so ist es recht und schön geschnitten und außerdem hat er nebenbei soeben die Quantenmechanik auf den Kopf gestellt. Ich gehe an die Kasse, zahle, lege noch zwei Euronen in die Trinkgeldbox drauf und frage ihn, ob er meinem Sohn wohl Nachhilfe in Physik geben könnte.

„Physik?“ fragt er mich erstaunt „Sehe ich so aus, als würde ich mich damit auskennen?“

Nein, tut er nicht. Er sieht einfach nur wie ein unschuldiger homosexueller Friseur aus. Ich gehe und werde ihn das nächste Mal fragen, was er meint, wie die griechische Schuldenkrise gelöst werden könnte.

Ich kann noch viel von ihm lernen.

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