Mittwoch, 17. Dezember 2014

Wo ist Herr Schmidt?

Ich hatte mich mit Petra zum Mittagessen verabredet, weil ich erstens Hunger hatte, zweitens nicht alleine essen wollte, drittens Petra nett ist, viertens auch gerade Zeit hatte und fünftes ist das eigentlich auch für die Geschichte völlig unerheblich.

So stehe ich also vor jenem kleinen, auf hip gestylten Pseudomexikaner mit der dominikanische Köchin und der stets schlechtgelaunten Lehramtsstudentin, die nebenbei hier das schmeißt, was sie als „Service“ bezeichnet, rauche noch eine Zigarette, bis Petra  mit der obligatorischen Viertelstunde Verspätung aufschlägt.

Wir könnten auch gleich reingehen, sagt sie, sie müsse nur noch kurz den Schmidt anrufen, der heute die Nachmittagsbetreuung übernimmt, da sie nachher mit einer Bekannten ins Kino wolle, Sekündchen grad und sie tippt die Nummer in ihr Smartphone, während ich versuche, möglichst cool und nicht hungrig auszusehen. Petra dreht sich weg, Handy rechts am Ohr, im linken steckt der Zeigefinger. Also ihrer, nicht meiner.

Ich stehe also da und warte und betrachte Petras Rücken, der auch entzücken kann. Sie schweigt. Eine Minute lang. Und verkündet dann, der Schmidt ginge nicht ran. Sie würde jetzt die andere Nummer nur kurz probieren. Welche auch immer. Sie tippt, dreht sich ´rum und bekommt wohl jemanden an den Hörer und ob der Jochen, also der Herr Schmidt da sei. Dann dreht sie sich zu mir, sagt „kleinen Moment, die fragt nach“ und ganz leise klingt Mozarts kleine Nachtmusik, interpretiert von einem offen hörbar einhändigen Akkordeonspieler, aus dem Hörer.

Ich zünde mir noch eine Zigarette an und habe Hunger.

Nach etwa einer weiteren Minute Schweigen erfahre ich aus dem Telefonat, dass Herr Schmidt im Moment nicht am Platz sei und es Petra nichts nutze, wenn sie mit seinem Vorgesetzten spräche, weil, es ginge um die Nachmittagsbetreuung heute, ja, sie habe die Handy-Nummer, aber Herr Schmidt ginge da nicht dran und es wäre aber dringend. Achso, ja, wenn der Chef wisse, wo Herr Schmidt sei, weil er den Dienstplan hätte, dann würde Petra doch gerne mit dem Chef von Herrn Schmidt verbunden werden.

Ich hab die Kippe zur Hälfte weg. Nikotin dämpft das Hungergefühl.

Der Vorgesetzte von Herrn Schmidt sei gerade zu Tisch (der Glückliche hatte anscheinend keine Verabredung mit Petra), aber sein Stellvertreter wisse das auch, Petra erklärt mir flüsternd, sie würde zum Stellvertreter durchgestellt.

Ich habe die Zigarette weggeraucht und stehe wieder nikotinfrei da, Petra wird aus der Warteschleife geworfen, sieht mit einer Überraschung aus Verzweiflung und Verwirrung ihr Handy an, als wäre das dran schuld, sagt „Oh Mann“ und „kleinen Moment, das geht schnell“ und wählt jene ominöse Nummer erneut, während ich die Werbung für Erwachsenenwindeln aus dem Sanitätshaus gegenüber studiere, da es durchaus sein könnte, dass ich welche brauche, bis Petra die Mittagsbetreuung organisiert hat.

Petra meldet sich wieder, sie sei gerade aus der Leitung geflogen, sie wolle verbunden werden mit dem Stellvertreter des Chefs von Herrn Schmidt, weil es ginge um die Mittagsbetreuung und Herr Schmidt sei nicht da, ja, sie habe die Handy-Nummer, aber da ginge er nicht dran und nein, nicht mit dem Chef verbinden, der wäre zu Tisch, aber der Stellvertreter wisse das auch und sie möchte gerne mit dem Stellvertreter verbunden werden und ich spüre, wie meine Barthaare wachsen und ich würde gerne ein Snickers essen.

Petra meint, während der einarmige Akkordeonspieler wieder Akkordeon spielert, ich könne doch derweil ins Lokal gehen und bestellen, sie wäre gleich fertig, aber weil ich auch gleich fertig und Gentleman bin, warte ich wie der getreue Heinrich mit ihr, ich Depp.

Inzwischen meldet sich der Stellvertreter des Chefs von Herrn Schmidt und ich schöpfe neue Hoffnung. Ja, hallo, Petra sei am Apparat, sie würde Herrn Schmidt suchen wegen der Nachmittagsbetreuung, aber der ginge nicht ans Handy, wo er sonst zu erreichen wäre würde sie gerne wissen.
Sie flüstert mir quasi als Live-Übertragung zu: „er guckt in den Dienstplan“. Dann, nach 20 Sekunden: „er muss in den anderen Raum, er hat den Dienstplan nicht auf dem Tisch.“

Während ich mir die nächste Zigarette anzünde und überlege, ob ich mir eine Eigentumswohnung kaufen soll, solange Petra nach Herrn Jochen Schmidt wegen der Mittagsbetreuung sucht, erfahre ich nach weiteren 30 Sekunden „er hat ihn“ und ich frage mich, ob „er“ den Dienstplan oder den Höllenschmidt hat. „Er“ hat leider nur den Dienstplan.

Petra dreht sich herum, wechselt den Hörer in die linke Hand, kramt nach einem Einkaufszettel und einem Werbekuli von „Uschis Angelbedarf, Tagespflege und Lottoannahmestelle“ und notiert sich eine Nummer. Da müsse Herr Schmidt jetzt sein. Vielen lieben Dank und sie riefe da mal an.
Petra lächelt ihr niedliches Petra-Lächeln und macht mir Hoffnung mit dem Satz „nur noch ein kurzer Anruf, dann ist das geklärt.“

Ich lächle zurück und überlege, ob ich mich auf offener Straße nackig ausziehen soll. Einfach so. Weil mir langweilig ist. Und ich Hunger habe.

Petra tippt die Nummer ein und hat anscheinend sofort Kontakt, weil sie sagt „hier ist Petra Y., ich habe die Auskunft, dass Herr Jochen Schmidt heute bei Ihnen ist, könnte ich ihn bitte kurz sprechen“ und dann sagt sie „Wie? Ich verstehe sie nicht. Bin ich nicht bei Yildirim? Achso, nein. Nein, dann habe ich mich verwählt.“

Tja, da geht es ihr wie mir. Ich habe mich in der Begleitung für das heutige Mittagessen verwählt und überlege, ob es nicht klüger ist, nächstens mit Petra zum Abendessen zu gehen, da ich keinen halben Tag Urlaub geplant hatte.

Petra lächelt ihr reizendendes Petralächeln, echt, ehrlich, es täte ihr leid, sie habe sich in der Aufregung vertippt, da sei anscheinend ein Zahlendreher drin und probiert es gleich nochmal, kurz.

Ich bemerke einen heißen Schmerz an Zeige- und Mittelfinger, weil die Zigarette bis auf den Filter heruntergebrannt ist und hoffe, kein Notfall zu werden, weil dann Petra den Notarzt anrufen müsste und naja…

Petra hat sich anscheinend die Nummer falsch notiert, da sie immer noch nicht bei Yildirim ´rauskommt und entschuldigt sich.
Verzweifelt schlage ich vor, dass wir uns doch zum Abendessen treffen könnten, dann bräuchte sie die Mittagsbetreuung nicht und wenigstens einer von uns käme zu einer Mahlzeit, aber Petra lächelt ihr charmantestes Lächeln, sie würde nur kurz den Stellvertreter des Chefs von Herrn Schmidt anrufen, kein Problem, und nochmal nach der Nummer fragen, das ginge jetzt auch schnell und meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich.
Der Stellvertreter des Chefs von Herrn Schmidt ist nämlich eben zu Tisch. Dafür ist aber der Chef zurück, aber der hat den Dienstplan nicht auf dem Tisch, den müsse jemand weggenommen haben und er würde ihn kurz suchen und ich brülle dazwischen, dass der wahrscheinlich auf dem verdammten Tisch von dem verdammten Höllenstellvertreter liegt, aber der Akkordeonspieler der Wartschleife ist schneller und ich habe Hunger und muss außerdem pissen und mir gehen die Zigaretten aus und Petra ruft freudig „ich sehs, ich hab den 5er als 3er gelesen, deswegen, danke, ja sie probierts nochmal.

Sie lächelt entschuldigend und sagt „Chaos, oder?“ und die richtige Antwort wäre „ja, allerdings, warum muss Herr Schmidt auch heute zu Yildirims fahren, wo ich doch mit Dir Mittagessen wollte“, aber ich sage nur ein blödes „so isses halt manchmal“.
„Gleich“ sagt Petra. „Nur noch ein Anruf“ sagt Petra. „Jetzt stimmt die Nummer ja“ sagt Petra, die sich für mich seit einer gefühlten Stunde ganz falsch anfühlt. Die Nummer. Nicht Petra.

Petra meldet sich im Kindergeburtstagston, ob sie bei Yildirim sei, ja prima, ob der Herr Schmidt da sei, super, ob sie ihn kurz sprechen könne, ja sie würde warten…

…wie ich. Ich glaube, der Messias kommt früher als Herr Schmidt.

Zu meiner tiefen Überraschung läuft Petra plötzlich im Herzlichkeitsmodus und dieses Gefühl teile ich aus tiefstem Herzen, denn gleich können wir essen: „Jochen, hei, grüß Dich, Du es geht um folgendes wegen der Nachmittagsbetreuung heute… hallo? Jochen? Jochen? Hallo?“
Sie starrt entgeistert und angewidert ihr Handy an. „Scheiße“ sagt sie. „Akku leer“ sagt sie. Und „verdammte Scheiße“ sagt sie auch.
Auf meine Frage „Und? Jetzt?“ bekomme ich die Gegenfrage „hast DU Dein Handy einstecken?“ und geistesgegenwärtig sage ich „nein, das liegt im Auto, im Parkhaus, in ungefähr 5 Kilometern Entfernung, so ein Mist.“ „Macht nichts“ sagt Petra, „ich frag mal kurz, ob ich drinnen telefonieren kann, dauert nur ein Sekündchen.“ Sprichts und verschwindet in dem Pseudo-Mexikaner.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, wähle die Nummer, die Petra dankenswerter Weise auf dem Einkaufsbon vom Edeka hinterlassen hat und während Petra zurück kommt, weil sie die Nummer vergessen hat, rufe ich Familie Yildirim an, behaupte, ich habe mich verwählt und lege nicht auf, als Frau Yildirim auflegt.

Dann zünde ich mir noch eine Zigarette an und hole mir eine Bratwurst aus der Metzgerei nebenan. Bis ich nach einer Viertelstunde Bratwurst gegessen und Zigarette geraucht habe, kommt eine total enervierte Petra aus dem Mexikaner, schüttelt traurig den Kopf und sagt „ich muss nach Hause, da ich Jochen nicht erreiche. Bei Yildirim ist dauernd belegt. Ich hab niemanden für heute Mittag. Jetzt muss ich wegen des Kinos absagen, sorry, dass das heute so chaotisch war.“

Ich pflichte ihr bei, lasse sie ziehen, wir sehen uns nächste Woche, wenn es wieder heißt „ich muss ganz kurz noch ein klitzekleines Telefonat führen“.

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