Freitag, 2. Januar 2015

Ruf-mich-an

Das war so: ich hatte mich mit Ellen zum Kino verabredet, so in ein paar Tagen, da wir beide den Film sehen wollten und es mit an tödlicher Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein mega-super-schöner Abend werden würde. Ich organisiere Kinokarten, Sie das Restaurant,  das war der Deal.

Nun muss man dazu sagen, dass Ellen und ich uns seit ein paar Wochen Abends oder auch unter Tage gelegentlich SMS schreiben, einfach, um zu lesen, wie es dem anderen geht und zu beschreiben, wie es einem selbst geht. Wie das eben gute Freunde so machen.
Jetzt habe ich seit 15 Stunden nichts von ihr gehört oder gesehen oder gelesen.

Im Grunde könnte mir das ja egal sein, weil ich a) meinen Termin ja in der Tasche habe und b) die Frau erwachsen ist und ja gefällig selbst darüber entscheiden kann, wann sie wen wie und auf welche Art kontaktiert und c) sonstiges.

Es wäre halt nett, ich würde mal ein Lebenszeichen kriegen. Irgendeines.

Wir Menschen sind es gewohnt, ungewohnte Situationen zu reflektieren oder uns mit neuen Situationen eingehender zu beschäftigen.

Sicher könnte ich Ellen anrufen oder ansimsen. Könnte ich machen. Aber das ginge gegen meinen Stolz und mein Ego, da ich niemandem hinterher laufe und wenn sie nicht schreibt, dann könnte ja durchaus ein triftiger Grund dafür vorliegen.

Das fängt bei simplen Gründen wie „das Handy ist mir ins Klo gefallen“ an. Dann bräuchte  sie locker 24 Stunden, um das Teil zu trocknen und müsste solange auf dem technischen Stand von 1933 leben, da sie ja kein Festnetz hat, weil man das ja nicht braucht, wenn man ein Handy hat. Hat sie jedenfalls gedacht, die Nuss.

Andererseits hat sie Kinder im technikfähigen Alter, es könnte also durchaus sein, dass sie da auf ein Ersatzgerät zugreifen und mir ein kurzes „Mein Handy ist mir ins Klo gefallen“ simsen könnte, dann wüsste ich Bescheid und bräuchte mir keine Gedanken zu machen.

Vielleicht hat sie aber auch gar keine Lust mehr, mich am Samstag zu treffen, was mich verblüffen würde, da ich, entgegen meiner üblichen Gewohnheiten, DIESMAL gar nichts Böses gemacht oder gesagt oder geschrieben habe. Dann wäre es aber zumindest nett, sie sagte ab, dann könnte ich mit Maike oder Sarah oder Klaus oder gar nicht gehen und die Karten an zwei Obdachlose vor dem Kino verschenken, damit die es auch mal auf drei Stunden warm haben. Das wäre dann zumindest eine Sache der Höflichkeit. Also ihrer.

Griffe ich aber zum Hörer, dann sähe das so aus, als hätte ich es nötig oder würde klammern und dann stünde ich wie ein Depp da und obwohl das bei mir eigentlich schon Gewohnheit ist, mich zum Löffel zu machen, wäre das doch auch irgendwie lästig. Zumindest im vorliegenden Fall. Ich möchte ja auch keine Freundin oder Bekannte, die mir in Permaschleife auf den Senkel geht. Und Ellen sicher auch nicht. Zumal wir ja nur Freunde sind, die sich nicht dauernd belästigen und von denen jeder sein eigenes Leben hat.

Vielleicht ist das andererseits ja auch eine Art Psycho-Test, um herauszufinden, ob mir genug an ihr liegt, um anzurufen oder ihr wenig genug an mir liegt, um eben nicht anzurufen. Wäre ja möglich und solche Scheiße steht ja gelegentlich in Frauenzeitschriften unter der Überschrift „Wie wichtig ist Ihren Mitmenschen Ihre Freundschaft?“ Dann würde ich jenen subtilen Test durch einen Anruf bestehen oder bei Nichtanruf durchfallen. 
Schwierig.  

Es könnte aber natürlich auch sein, dass sie sich schwer verletzt hat und jetzt blutend und alleine mit meinetwegen aufgeschnittenen Pulsadern im Badezimmer liegt, weil der Versuch einer Handwurzelrasur aufgrund eines in die Wanne gefallenen Föhns ein eher unerfolgreiches Ende nahm. Allerdings wäre dann auch mein Anruf sinnlos, da sich das Handy, wenn es nicht in die Wanne oder auf den Fliesenboden gefallen wäre, jetzt auch entladen hätte. Gut, dann müsste ich aber sowieso bis Samstag warten, wenn beim Abholen gelb-schwarze „Tatort-nicht betreten“-Bänder an der Türe hingen, dann wäre mein Abend versaut, aber ich wüsste Bescheid. Und würde mir zwei Obdachlose suchen.

Möglich wäre allerdings ebenfalls, dass sie eine weitere, viel bessere Einladung für Samstag bekommen hat, beispielsweise einen Presseempfang im Kanzleramt oder eine Schiffstaufe und sich nun nicht traut, mir abzusagen. Könnte ja sein, man weiß es nicht, man weiß es nicht.

Oder sie wurde von einer Horde brandschatzender Mongolen auf der Durchreise überfallen und ausgeraubt und kam so ihres Handys verlustig. Oder sie hat kurz nach dem letzten Telefonat eine schwere Nierenkolik gezogen und liegt nun auf der Intensivstation im  Krankenhaus, während das Drecks-Handy sich daheim entlädt. Ist mir jedenfalls schon passiert. Oder eine Dachlawine ist fast auf sie gefallen und beim Sprung zur Seite fiel das dämliche Handy, mit dem sie mir eben schreiben wollte, in den Gulli und liegt da noch. Oder ein zwei Euro großer Meteorit aus der Andromeda-Galaxis, der seit ein paar Millionen Jahren unterwegs ist, hat ausgerechnet sie auf dem Rewe-Parkplatz erwischt und dabei fiel ihr das Handy in die Seitentasche der Fahrertür, als sie gerade die Einkäufe auslud und findet nun, nachdem sie vom Arzt eine künstliche Schädelplatte aufgeschraubt bekam, das Handy nicht mehr. Oderoderoder… Unendliche Möglichkeiten in unendlicher Kombination, UMUK.

Oder sie will schlicht nicht mit mir reden. Kann auch sein. Wäre ja möglich. So sieht es jedenfalls so von außen aus.

Es gibt jetzt also zwei Möglichkeiten: ich rufe an – oder nicht. Ich werfe eine Münze, Kopf für Anrufen, Zahl für ihre Nummer wählen, das ist fair.

Ellen geht dran und klingt so gar nicht nach blutendem Notfall und erklärt, dass sie Besuch bekommen hat. Der ist über Nacht geblieben. Und wird das für die nächsten 7 Monate auch weiterhin tun. Da konnte sie sich nicht melden.


Wenigstens liegt sie nicht im Krankenhaus. Wir sehen uns Samstag. Sie hat reserviert. Ich muss nicht alles verstehen.

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