Donnerstag, 9. Juni 2016

Platzkonzert


In jeder Beziehung kommt der Moment, in dem sich der geliebte Partner, dieser Adonis und weltgewandte James Bond für die Mittelschicht und die Brigitte Bardot für Fernsehillustriertenleser plötzlich als profaner Mensch mit Stärken – aber auch mit Schwächen outet.

Ich hatte mein Coming-out als Mensch anlässlich einer Reise, bei der ich ein kleines, sympathisches und intimes Hotel für Romantik zu Zweit gebucht hatte. Und hätte ich gewusst, wie verdammt intim dieses Hotel ist, ich hätte… Aber der Reihe nach:

Das „Love London Live“ liegt in einer kleinen, verschwiegenen Seitengasse des wahnsinnig romantischen und sympathischen Picadilly Circus, wo sich die Liebenden Londons treffen, um von englischen Taxis gemeinsam überfahren zu werden. Bei diesem sympathischen Boutiquehotel treffen burleske Einrichtung auf den Versuch, auf 10m² ein Doppelbett, eine Toilette, eine Dusche, einen Schrank und ein Waschbecken unterzubringen. Gefangene in Guantanamo haben mehr Platz für sich, aber man will ja auch die Stadt sehen und sich nicht im Hotelzimmer aufhalten, nicht wahr?

Der eigentliche Punkt ist jedoch, dass den Hotelbetreibern ihr kleines Laborrattenexperiment dadurch gelungen ist, dass sie die Wände von Toilette und Dusche derart dünn gehalten haben, dass japanische Innenwände dagegen wie Betonarmierungen wirken.

Und so sieht das aus: Da liegt die schönste aller Frauen neben mir erschöpft im Bett und die Burger des kombinierten Mittag- und Abendessens klopfen ungeduldig beim Pförtner meines Magens an und bitten um Auslass. Nun wäre es ja nicht so, dass man selbst nicht schon öfter in Anwesenheit des Partners mal eben Dinge getan hätte, die man als Mensch nun einmal tun muss, wenn man nicht platzen will, aber da war stets ein atombombensicheres, vor allem aber schalldichtes Refugium in der Nähe, in das man sich gutgelaunt mit Handy und Toilettenpapier hätte zurückziehen können, um so zu tun, als wasche man sich nur schnell die Hände oder pudere sich das Näschen…

Nicht so im „Love London Live“. Hier liege ich ja quasi mit den Füssen sowieso schon in der Toilettenschüssel, wenn ich mich nur fest genug ausstrecke, was ich tunlichst vermeide. Der einzige Lichtblick im Sackdunklen ist, dass Melanie einen Schlaf wie eine Tote hat und in der Regel selbst Luftschutzsirenen und das durchdringende „Kikeriki“ ihres verdammten Android-Handys in ihre Träume einbauen kann, wenn sie nur schlafen kann. Und so liege ich im Dunklen und forsche nach der Verhaltensweise meines Mageninhaltes.

Zuerst bahnt sich ein kleiner, frecher und dankenswerter Weise laut- und geruchsloser Wind seinen Weg nach draußen, ein üblicherweise sicheres Zeichen, dass da noch mehr ist, was ´raus will. Und zwar bald. Ich presse die Pobacken zusammen wie ein Pferdejockey und flüchte vorsichtig und möglichst leise in den Luftschutzbunker aus Pappmaché, der nur eine Armlänge entfernt ist.

Es reicht gerade noch, die Schlafanzughose nach unten zu ziehen. Was jetzt folgt, ist ein wunderbares Crescendo Beethovens 9ter Symphonie, gespielt auf der Arschposaune mit einer überraschenden Klangfülle, wie sie wohl nur die Baked Beans, die zu dem Höllenburger serviert wurden, hervorbringen können. Und mitten in den Teil mit dem „Babababaaaa“ höre ich eine Stimme rufen: „Thilo? Ist alles in Ordnung?“

Ich schätze, dass es Gottes Art von Humor war, mich hier zur Ordnung zu rufen. Die korrekte Antwort wäre jetzt „Nein, nichts ist in Ordnung, weil ich Dich soeben aus dem Schlaf gefurzt habe und noch lange nicht am Ende mit dieser kleinen Symphonie für eine Arschgeige bin und mich die Luft in meinem Bauch wie ein Heißluftballon an der Klodecke schweben lässt. Die Thermik hier im Raum ist wunderbar. Tu mir den Gefallen und verlasse das Gebäude. Nach Calais. Oder Norwegen. Auf jeden Fall weit weg! Wir sehen uns eines Tages wieder, wenn Du diesen Schock überwunden hast. Allerdings werde ich da schon 10 Jahre tot sein und wie so was riecht, erfährst Du, wenn ich die Türe aufmache, um ´rauszukommen…“

Stattdessen entscheide ich mich aber für ein halb-fröhliches, halb gestöhntes „ja, alles prima, alles schick, der, ehm, Toilettendeckel, also die Brille, das Dings da, das, ehm, hehe, knarzt sehr…“

„Bei mir nicht“ antwortet meine Lady Godiva im Halbschlaf, dann ist ein kurzes „wumpf“ zu hören, als ein Körper wieder auf die Matratze fällt, während sich der letzte Wind of Change mit einem leisen Legato verabschiedet.

Ich sitze noch eine Weile vor mich hin, ob noch etwas kommt oder ich mich gefahrlos aus der Kammer des Schreckens entfernen kann. Immerhin will ich mir noch die Hände waschen und muss dabei im Stockdunklen über ein Doppelbett, zwei Koffer und eine leere Rotweinflasche steigen, was schon noch einmal ein veritabler Parcours sein wird, als sich ein neues Geräusch durch die Papierwand hören lässt.

Es ist ein tiefes „Rrrrrrrr“, wie es wohl nur eine Gruppe von Holzfällern mit schweren Kettensägen im brasilianischen Regenwald hervorbringt, wen mal wieder „ein Fußballfeld gerodet wird“. Nur sind wir nicht im brasilianischen Regenwald und nachts um Drei sind auch in London keine Holzfäller unterwegs. Zwischendurch ist immer mal ein kleines Grunzen zu hören, das ich auch von mir kenne, wenn mir irgendwelche Körpersäfte im Rachen hängen…

Eingeschlafen. Tief. Ich schleiche über meine Hindernisbahn, wasche mir leise die Hände und nehme Melanie, die das Geräusch einer Panzerparade auf dem Champs-Elysee imitiert, in den Arm.

Am Ende des Tages und am Beginn des neuen Tages sind wir alle nur Mensch. Leider und Gottseidank.

Mittwoch, 11. Mai 2016

2658O


Neben den üblichen Begleiterscheinungen des Alterns wie der hochflexiblen Bestellung in Restaurants („Das Wiener Schnitzel bitte ohne Panade, weil ich von der Sodbrennen kriege und statt der Pommes bitte Salat, weil ich kein Fett vertrage, aber bitte auch keine Zwiebeln im Salat, da ich von denen Hautausschlag bekomme und wenn Sie statt Schweine- vielleicht Putenfleisch verwenden könnten? Ja, dazu en Wasser, aber bitte still,, sonst muss ich aufstoßen“), habe ich festgestellt, dass die Gedächtnisleistung nachlässt. Zumindest manchmal. Aber vor allem dann, wenn es wichtig ist.

Da stehe ich neulich vor dem Bankautomaten meiner Wahl, um mir Bares zu holen, so lange es Bares noch gibt und ich das auf dem Konto habe, hinter mir eine Schlange bis Lissabon, weil es Samstag ist und ich gebe meine Geheimzahl ein und meinen Wunschbetrag. Ich habe das Portemonnaie schon in freudiger Erwartung des Geldregens geöffnet, als mir der Automat der örtlichen Raiffeisensparkasse mit einem hübschen roten Balken unterlegt hämisch mitteilt: „falsche PIN-Eingabe“. Und, etwas  tröstlich, „PIN bitte erneut eingeben.“

Tja.

Ich habe mir die PIN nur am Anfang gemerkt, seitdem gebe ich ein Muster ein. Ich starre auf die Tastatur. Haben die die ´rumgedreht? Die 1 links oben statt links unten? Oder isses normalerweise umgekehrt? Verdammt… Ich weiß es nicht… Meine Geheimzahl hatte etwas mit dem Kriegsende zu tun. Nur welchem? 1918 oder 1945? Es könnte auch 1815 oder 1866 oder 1871 gewesen sein. Welcher Krieg war es denn?

Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt. In meinen Rücken bohren sich die Dolche der Blicke der anderen Kontoplünderer. „Kein Geld auf dem Konto, aber abheben wollen“ sagen die Blicke. „Depp“ sagen die Blicke.

Ich entscheide mich für den zweiten Weltkrieg, aber rückwärts. 5491.

„Falsche PIN-Eingabe“ höhnt mich der Geldautomat an.

Okay. Konzentration. Einen Versuch habe ich noch. Es kam eine 7 drin vor. Oder eine 8. Oder eine 9. Eventuell auch eine 0, eine 1 und eine 3. Aber auch eine 2 oder 4 wäre möglich. Ich habe eine unendliche Zahl von Möglichkeiten  vor mir. Es ist ein Spiel 4 aus 10, was eine höhere Gewinnquote  als beim Lotto ist. Draußen hockt meine Verabredung im Café gegenüber und wartet, dass ich die Rechnung zahle. Drinnen warten die anderen Steuerzahler hinter mir, räuspern sich und scharren mit den Füßen. Irgendeiner knurrt „wird´s bald?“. Es ist aber wie beim Pinkeln. Ich kann nicht, wenn einer neben mir steht. Mein Kopf ist so leer wie die Minen von Moria. Und so voll mit Zahlen, ich könnte ein Universum aus Mathematik schaffen. Aber ich brauch nur 4 Ziffern.

Es ist lächerlich: ich könnte die komplette Schlange hinter mir zum Essen einladen, wenn mir nur die verfickten Zahlen einfallen würden. Ich habe damals, 1992, die PIN der Bank genommen und mir keine eigene herausgesucht. 1945 ist, glaube ich, der Entsperrcode für mein Handy und mir fällt spontan die Telefonnummer 6118 meiner ersten Freundin ein, damals, 1983, aber die nutzt mich jetzt auch nichts. 209 sind die beiden letzten Ziffern meiner Autonummer, zumal es drei Ziffern sind, was immer noch eine zu wenig ist. Ich erinnere mich an die 515 2364, die ist meine erste Handynummer, hilft mir aber genauso wenig wie die Spontaneingebung 3002 als die letzten vier Ziffern meiner Kreditkarte. Es hilft nichts. Mir fällt jede sinnlose Nummer seit 200966 ein, was zufällig mein Geburtsdatum ist und das ich schlauerweise für gar nichts verwendet habe. Ich stehe unter Leistungsdruck.

Ich hatte irgendein Muster bisher. Ich glaube, es war ein Pfeil. Was die Möglichkeiten auf 1579 oder 1597 oder 9524 oder 9542 eingrenzen würde, aber mir sagt das alles nichts. Es könnte auch 7562 oder 7526 oder 3584 oder 3548 sein. Oder aber es war ein L. Eine L-Form. Genau. Ich sortiere meine Gedanken. 9632. Ich bin ganz sicher. Ganz sicher, dass ich noch nie etwas von dieser Nummer gehört habe. Ich meine, es war eher eine Y-Form, weil ich damals noch dachte „oh, eine Y-Form“, aber das dachte ich damals beim Entsperrcode für die SIM-Karte auf dem Handy.

„Bis der fertig ist, haben wir wieder die D-Mark“ höre ich einen Mann mit Schnauzbart hinter mir laut sagen.

„Ich weiß meine Nummer nicht mehr“ gebe ich mich geschlagen und drehe mich um. „Und ich habe nur noch eine Chance.“ „Dann machen Sie halt Platz für die, die ein besseres Gedächtnis haben“ schnauzt der Schnauzbartmann zurück.

Ich überlege, wo ich mir die Nummer notiert haben könnte. Auf dem Handy? Bis ich das durchsucht habe, ist mein Handy-Vertrag abgelaufen. Der Umschlag mit der richtigen PIN liegt in der linken unteren Schublade meines Schreibtisches. Oder oben rechts im Küchenschrank, wo irgendwie immer alles liegt. Genauso gut könnte das Zeug auf der Venus sein. Ich komme jetzt nicht dran.

Ich drehe mich wieder zum Automaten und schließe die Augen. Meine linke Hand wandert auf die Tastatur. Ich blende alle Geräusche aus und höre auf die Stimme des Universums. Um mich herum wird es ganz ruhig. So unendlich ruhig. Ich tauche in die Sterne, in die Galaxien, Raum und Zeit haben keine Bedeutung mehr. Dann durchflutet es mich wie pure Energie. Die Finger meiner linken Hand beginnen sich wie von selbst zu bewegen. Zeigefinger. Druck. Mittelfinger. Druck. Mittelfinger. Druck. Ringfinger. Druck.

Ich öffne die Augen. „Falsche PIN-Eingabe. Ihre Karte wird aus Sicherheitsgründen einbehalten“ erklärt mir der Automat, die alte Drecksau.

Ich trete enttäuscht, zornig und verwirrt einen Schritt zurück. Ich bin bis in mein tiefstes Mark erschüttert und gedemütigt. Ich bin alt. Ich weiß meine PIN-Nummer nicht mehr. Und als ich mein Portemonnaie einstecken will, fällt mir meine Bankkarte aus einem der Steckfelder.

Ich bin dann unter dem gemurmelten Beifall der anderen Wartenden gegangen. An einen anderen Automaten. Ich habe blind meine PIN eingegeben und habe Geld abgehoben. Und ich weiß bis heute nicht, welche Karte ich in den Automaten gesteckt habe. Aber sie hat mir nie gefehlt. Manchmal ist das Universum wirklich ein Arsch.


Freitag, 5. Februar 2016

Bauvorhof der Hölle

Vergesst die Navy-Seals, GSG9, KSK, Cobra, Speznas und wie sie alle heißen. Alles Luschen, Kindergarten, Anfänger und Sandkastensoldaten. Nein, die wirklich harten Jungs, die, die es echt draufhaben und Tag für Tag ihr Leben zum Wohle des Ganzen riskieren, die bei Wind und Wetter und manchmal sogar während der offiziellen Kaffeepause von 14.00 – 17.00 Uhr schwer mit Schraubenschlüsseln bewaffnet für Ordnung in der Welt des Wohlstandsmülls sorgen, sind die Mitarbeiter des Gemeindebauhofs.

Nicht jeder ist für diesen Knochenjob geeignet. Dringende Voraussetzung sind ein Alter jenseits der Fünfzig, eine chronische Krankheit, eine orange Warnweste und eine Wollmütze, auch im Sommer, und wer einen chronischen Raucherhusten und ein Päckchen Rothändle oder Overstolz einstecken hat, bekommt den Job.

Aber auch zwischen den gesundheitlich mindestens Angeschlagenen wird noch einmal kräftig gesiebt. Alleine die Ausbildung zum Hilfs-Bauhofmitarbeiter dauert Minuten. Wie findet man die richtige Geschwindigkeit zum Öffnen des Bauhoftores? Ist der Bauhofmitarbeiter zu schnell, versuchen zu viele Müllbürger gleichzeitig durchzuwitschen und es herrscht Chaos am Grünabfall. Ist er zu langsam, verziehen sich die Bürger und kippen den Rasenschnitt in die örtlichen Grünanlagen. Dann die richtige Sprechgeschwindigkeit. Autoritär, aber auch bestimmt und unfreundlich. Außer bei Frauen diesseits der 50. Hier darf der Bauhofsheriff auch mal lächeln. Ein bisschen. Dann: die Sprechgeschwindigkeit muss schnell, der Duktus kurz, knapp und militärisch sein, gewiefte Profis flechten Huster ein: „Bauschutt *hust* einmal rum, hinten *hust* links!“, oder „Sperrmüll nemmwa *hust* nich, wieder mitnehmen!“ Wichtig ist hierbei ein Tonfall, der keinen Widerspruch duldet.

Bauhofmitarbeiter dürfen nicht diskutieren. „Faustgroße Stücke Styropor“ sind faustgroße Stücke Styropor. Und zwar nicht der Faust von Wladimir Klitschko oder meiner Faust, sondern der Faust eines Neugeborenen. Wenn das der Bauhofmitarbeiter so bestimmt. Weil man ihm irgendwie blöd gekommen ist oder er nur einfach seinen Korn nicht zum Frühstück hatte. Was konkret bedeutet, dass der entsorgungswillige Bürger sich gefälligst unter den misstrauischen Augen des Wachpersonals vor die Styroportonne stellt und sein Styropor stundenlang mit Händen und Zähnen in die einzelnen Bläschen zerschnetzelt und hinterher aussieht, als wäre er durch einen Schneesturm gelaufen.  Und wehe, einer muckt auf! Dann wird der Grünabfall eben in Rasenschnitt, Äste, Pflanzen mit Wurzeln, Pflanzen ohne Wurzeln, Gemüse, Ziersträucher und Unkraut getrennt. Das Folterrepertoire des Bauhofmitarbeiters tendiert nämlich gegen unendlich.

Ich persönlich glaube, dass die Stelle des Bauhofmitarbeiters nur aus dem Grund geschaffen wurde, damit die Leute, die früher in KZ die Aufsicht hatten, eine Anschlussverwendung haben und ihre nahezu grenzenlose Macht über harmlose Bürger, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ihre vollen Abfallkübel aus dem Hof zu bekommen, ausüben können ohne dabei tödlichen Unfug zu treiben. Ich glaube sogar, dass „Bauhof“ so ein typisch deutsches Ding ist. An der Rampe stehen und selektieren. Das haben wir drauf, das machen wir gerne. Ob es nun Menschen oder Gartenabfälle sind. Und in dunklen Momenten habe ich den Verdacht, auf die Antwort „ich habe hier eine Leiche, die entsorgt werden muss“ den Hinweis „einmal rum, hinten der Container vor dem Ausgang links, aber vorher Zahngold entfernen!“ erhalte.

Daher: überlasst die Grenzsicherung den Bauhofmitarbeitern. Da wird dann zwar auf niemanden geschossen, aber bei Übertritt klargestellt, dass es hier keinen Platz gibt, an dem politischer oder religiöser Extremismus entsorgt werden kann. Dann muss der Grenzübertrittswillige eben wieder nach Hause und seinen Extremismus mitnehmen.


Bauhofmitarbeiter – die harten und unbesungenen Helden im Kampf für eine sauber sortierte Umwelt.