Sonntag, 21. Dezember 2014

Geist schlägt Materie?

Geist schlägt Materie?

Wir hatten von der Firma aus Weihnachtsfeier, was in meinem Falle bedeutet, dass sich meine Angestellten auf meinen Deckel beessen und betrinken und trotzdem alle keine Lust haben, hinzugehen und sich deswegen eben als Ausgleich beessen und betrinken.

Und wie sich das für eine zünftige Weihnachtsfeier gehört, sind wir nach dem Essen noch in eine Cocktailbar (laut, voll und mit sehr viel Eis in sehr kleinen Gläsern mit sehr wenig Alkohol) gegangen und anschließend in einen Tanzclub, was die euphemistische Bezeichnung für eine Diskothek ist, in die Leute gehen, die in eine Diskothek gegangen sind, als Helmut Schmidt die Vertrauensfrage im Bundestag verloren hat.

Es ist laut, voll und es gibt sehr viel Eis in sehr kleinen Gläsern mit sehr wenig Alkohol. Und ich treffe Sandra, eine Bekannte, die ich ziemlich gut leiden kann, weil ich sie cool finde. Mit Sandra habe ich schon stundenlang geplaudert, wir haben wenigstens eine, wenn nicht zwei Wellenlängen oder sogar einen kompletten Sender gemeinsam. Sie ist mit ein paar tanz- und vergnügungssüchtigen Freundinnen da, weil sie, wer hätte es gedacht, soeben von einer Weihnachtsfeier kommt und ich habe keine Ahnung, wie sie meinen kleinen Pulk Leute und mich in diesem Vorhof der Hölle gefunden hat, aber sie setzt sich zu uns, die wir teils stehen, teils sitzen und total rythmisch und so mit Weinglas (Bier ist was für die Unterschicht) in der Hand zur Musik kopfwippen oder die übergewichtigen Hüften kreisen lassen.

Nun finde ich es grundsätzlich toll, neben Sandra zu sitzen. Weil sie gut riecht, hübsch ist, intelligent ist und ich mich mit ihr über mehr als über das Wetter oder kindische „Beziehungsprobleme“ jedweder Art unterhalten kann. Aber nicht hier. Hier ist es laut, es stinkt und an jeder Ecke stehen Mittfünfziger mit Glatzen, die diese niedlichen Polohemden mit großen Ziffern und kleinen Herstellerschildchen tragen und heute noch sehr dringend kopulieren möchten. Vorzugsweise einmal nicht mit der eigenen Hand. Schließlich werden die meisten Kinder nach Weihnachtsfeiern gezeugt.

Ich habe kein niedliches Polohemdchen an, weil ich direkt nach der Arbeit besinnlich werden und sprichwörtlich bis zur letzten Sekunde arbeiten musste, ich kann also nicht mit großen Ziffern und in diesem akustischen Umfeld eines Schwermetallbetriebes auch nicht mir einer großen Fresse aufwarten. Das ist schlecht.

Und weil es scheisslaut und scheisseng ist, rutschen drei mit U40 für dieses Etablissement noch minderjährige angebliche Polizisten, die, wer hätt´s gedacht, von einer Polizeiweihnachtsfeier kommen und wie Pornodarsteller aussehen, nah an unseren Tisch. Sehr nah. Sehr sehr nah. Vor allem nah an Sandra. Was mir in etwa so gut gefällt wie eine plötzliche Steuerabbuchung vom Finanzamt. Oder eine Alkoholkontrolle nach einer Weihnachtsfeier. Und weil der eine Polizistpornograph, der seine Getränke von meinem Steuergeld bezahlt, näher an Sandra als ihr Kleid sitzt, kann ich mich mit Sandra auch nicht mehr im Kasernenhofbrüllton unterhalten, was sowieso nur geht, wenn man seinen Mund so nahe ans Nachbarohr führt, dass man die Haare des Gesprächspartners im Mund hat. Ich schätze, das ist aber Absicht in dieser Art Schuppen.

Ich sags mal so: ich bin 48 Jahre alt, habe den Großteil meiner Haare noch, bin Arbeitgeber eines kleinen Dienstleistungsbüros der Finanzbranche, intelligenter als ein Schäferhund und habe seit vier Stunden das beste Geschäftsergebnis ever erzielt. Mit 20% Umsatzsteigerung! Ich habe keinen Grund, einen Minderwertigkeitskomplex zu haben. Eigentlich.

Leider sehe ich mittlerweile wie ein junges Mastodon aus, die verschiedenen bunten Buffets meines Lebens haben also deutliche Spuren hinterlassen.

Die drei Polizistenweihnachtsfeierer sind dumm wie Polizistenweihnachtsfeierer, haben aber hervorragende Körper und keine Doppelkinne.

In jeder virtuellen oder realen Diskussion gegen mich würden die Köpfe der Kollegen innerhalb von fünf Minuten fliegen und die Torsi würde ich oben rechts im Netz versenken. Mit verbundenen Augen und nur einer Hand auf der Tastatur.

Aber wir sind weder im virtuellen Raum, noch auf einer gepflegten Lesung mit politisch korrektem Rotwein aus der Toskana, sondern in einem Tanzabschleppschuppen, hier geht es um laute Stimme, zuckende Körper und Schweiß. Mit anderen Worten: um Sex. Auch, wenn es die eher erbärmliche Form der Alterssexualität ist.

Mit noch anderen Worten: dies hier ist nicht meine Spielwiese. Im „Hörsaal“, vor meinen „Studenten“, bin ich hervorragend in der Lage, einen Tiger zu sezieren, zu filettieren, die Eingeweide zu erklären und dann unter Applaus in die Menge zu werfen. In jedem intellektuellen Zweikampf wäre ich ein top-trainierter Ninja, der einer Horde mit Ästen bewaffneter Bonobos gegenübersteht.
Hier, in freier Wildbahn, stehe ich gleich drei Tigern nur mit einer Brille als Waffe gegenüber und da brauche ich nicht groß Mathematik studiert zu haben, um mir auszurechnen, wie hoch meine Überlebenschancen sind. Das kann nur in einer Katastrophe enden.

Im Grunde könnt´s mir ja egal sein, ich meine, es ist Nachts zwei Uhr, das Licht ist schmeichel- und zweifelhaft und ich bin ja mit meinen Leuten da und Sandra mit ihren und hey, die sind ja nicht in das Loch da rein gegangen, um die wichtigsten cineastischen Meilensteine seit der Entwicklung des Stummfilms unter Berücksichtigung des kulturellen Impakts der amerikanischen Mittelschicht in der Mitte des 20sten Jahrhunderts zu diskutieren. Die wollen hier nur hotten und sich bebaggern lassen und ich bin ja eigentlich bei meinen Leuten auch nur mit, weil es hieß, ich würde mich immer verpissen, wenn der Abend erst richtig anfinge, wobei ich seit den letzten 10 Minuten auch wieder weiß, warum diese Entscheidung stets richtig war. Ich stehe hier mit dem Hollandrad auf einer, OK, im Anbetracht des Alters aller Anwesenden, Formel3-Rennstrecke. Das wird nicht funktionieren, da kann ich mich nur zum Opfer machen. Ich bin doch nicht bescheuert.

Wenn ich mich also nett unterhalten möchte, dann bleibt nur eine Taktik: wechsle die Arena, auf die Spielwiese, die Du kennst und hoffe, die anderen ziehen mit... Ich schlage meinen Leuten also einen Ortswechsel vor und erwähne das so mehr beiläufig beim Aufstehen Sandra gegenüber, deren rechter halber Schädel in diesem Moment zu einem guten Stück im Mund des Pornopolizisten steckt, der ihr irgendwas Tolles erzählt und dabei ist, den Arm um sie zu legen, hurra. Ich spiele für einen Moment mit dem Gedanken, Sandra ganz offen vor aller Augen mit einem lauten DANKE einen Hunderter über den Tisch zu schieben, nur, um ihren und der Pornopolizisten Gesichter zu sehen. Aber manche Dinge macht man dann doch lieber im Kopf.

Wir verlassen jenen ersten Kreis der Hölle, um uns in himmlischere Sphären, in diesem Falle einen kleinen Privatclub am anderen Ende der Stadt, zurückzuziehen und ich bin gespannt, ob Sandra ihren Kopf aus dem Rachen des Löwen befreien konnte oder wollte, wobei ich mir einrede, dass es mir ja eigentlich sowieso egal sein kann, weil ich ja weiß, wer ich bin. Und auch, wer ich nicht bin.
Das ist aber jetzt eher so ein prinzipielles Ding. Kann der Geist die Materie schlagen? Und: möchte ich mit jemandem befreundet sein, der sich in einem Abschleppschuppen abschleppen lässt, selbst, wenn mich das im Grunde einen dicken Scheißdreck angeht?

Dem Leser überlasse ich das Ende: sind sie nachgekommen?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen